Kommentar EU-Streit um Juncker: Das Ende von Merkiavelli
Eine Sternstunde der Demokratie sollte die Europawahl sein. Die Streitereien jetzt machen das kaputt. Doch die Politik der Hinterzimmer ist vorbei.
G erade mal eine Woche ist es her, dass die Europäer ein neues EU-Parlament gewählt haben. Eine Sternstunde der Demokratie sollte es werden, zum ersten Mal sollten die Bürger den nächsten Kommissionspräsidenten bestimmen. Doch was seitdem passierte, hat nicht nur den Wahlsieger Jean-Claude Juncker beschädigt. Es hat auch das ohnehin schwache Vertrauen in die EU weiter demoliert.
Schuld daran sind die Staats- und Regierungschefs, die sich am vergangenen Dienstag zu einem völlig nutzlosen, ja kontraproduktiven EU-Gipfel in Brüssel getroffen haben. Statt dem Wahlsieger Juncker zu gratulieren und ihn zum nächsten Kommissionschef zu küren – wie es im Wahlkampf versprochen worden war – ließen sie ihn auflaufen.
Eine besonders üble Rolle kam dabei – folgt man mehreren Medienberichten – Kanzlerin Merkel zu. Sie stellte sich nicht nur an die Seite des britischen Premiers Cameron, der Juncker um jeden Preis verhindern will. Merkel verhinderte offenbar eine Abstimmung (die Juncker bestätigt hätte) und drohte ihrerseits mit einem Veto.
Dahinter steht nicht nur die Angst vor einem britischen EU-Austritt. Dahinter steht auch eine neue deutsch-britische Achse, die die EU bereits seit Jahren in Geiselhaft hält. Beim EU-Budget, beim Freihandelsabkommen TTIP und bei den Spionageaffären sorgten Cameron und Merkel dafür, dass ihr neoliberaler Kurs obsiegt - gegen das EU-Parlament.
Macht ist ihr wichtiger als die Bürger
Dasselbe wiederholt sich nun nach der Wahl. Merkel lässt es zu, dass die Stimmen für die britische Anti-EU-Partei UKIP mehr zählen als die Stimmen aus 27 EU-Ländern für Juncker. Damit beschädigt sie die noch junge und schwache europäische Demokratie. Die Macht im Ministerrat ist ihr offenbar wichtiger als das Votum der Bürger.
Klar, beim Katholikentag hat sich Merkel öffentlich zu Juncker bekannt. Doch das kam zu spät und war zu vage. Statt offensiv für ihren Kandidaten zu kämpfen, ließ sie sich ein Hintertürchen offen: Sie strebe einen Konsens an — was ja nichts anderes heißt, als dass sie weiter auf Cameron Rücksicht nimmt. Und dessen Nein steht fest.
„Merkiavelli“ hat der Soziologe Ulrich Beck die Kanzlerin während der Eurokrise getauft. Kühl lächelnd spielt sie alle Schachfiguren gegeneinander aus, um am Ende als strahlende Siegerin vom Feld zu gehen. Möglich war dies allerdings nur, weil alle wichtigen Entscheidungen im Hinterzimmer ausgekungelt wurden. Doch das ist vorbei.
Merkiavelli steht unter dem Druck des Europaparlaments und einer neuen, wachsamen Öffentlichkeit. Jede Windung und Wendung wird genau beobachtet. Merkels übles Spiel mit Cameron ist schon aufgeflogen. Nun gilt es, den Machtanspruch des Rates zu brechen – und der europäischen Demokratie endlich zum Durchbruch zu helfen.
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