Kommentar Dioxin: Der Alltag ist der Skandal
Ein reines Gewissen kann man sich nicht erkaufen. Darum bleiben uns nur die Skandale als das bisschen Realität, das ans Tageslicht kommt.
D ass unsere Nahrung nicht von familiären kleinen Bauernhöfen stammt, sondern aus einer Industrie, ist längst bekannt. Man sagt nicht umsonst: Nahrungsmittelindustrie. Und: Futtermittelindustrie. Arbeitsabläufe sind maschinell organisiert, Kosten und Nutzen exakt berechnet.
Um Fehler und Betrug auszuschließen, müssten Tag und Nacht Kontrolleure herumlaufen. Tatsächlich fordert die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch von der Bundesregierung jetzt strengere Kontrollen der Futtermittelhersteller: Jede Charge jeder Zutat eines Futtermixes müsse routinemäßig vom Futtermittelhersteller getestet werden. Das ist Zukunftsmusik. Dass es sich bereits um Gegenwart handelt, scheint der Kunde trotz aller Skandale unbeirrbar zu glauben. Auch der Ökokunde übrigens. Er vertraut allerlei Gütesiegeln, insbesondere dem Biosiegel und den "Kontrollen" (über deren konkrete Abläufe er sich allerdings nie informiert).
Nun, was die Futtermittel angeht, ist der Biokunde dies Mal fein heraus. Tatsächlich können hier gewisse Verunreinigungen so gut wie ausgeschlossen werden, die Auflagen sind strenger.
HILAL SEZGIN ist Schriftstellerin und taz-Kolumnistin.
Doch was den Rest des "Bio"-Pakets angeht? Artgerechtigkeit zum Beispiel: Normale Bioeierfarmen werden nur einmal im Jahr kontrolliert - nach Anmeldung. In den Richtlinien wird Legehennen ein Auslauf von so und so vielen Quadratmetern garantiert. Der Kontrolleur sieht, dass dieser Platz vorhanden ist, und setzt seine Unterschrift darunter. Doch wie oft die Hühner tatsächlich in den Auslauf kommen, weiß keiner. Wenn es ans Schlachten geht, werden Trupps von Hühnerfängern engagiert. Es kommt zu barbarischen Szenen. Ab und zu lässt ein angewiderter Angestellter eine Kamera mitlaufen und spielt die Aufnahmen einem Fernsehsender zu - und wieder ein Skandal.
Im Grunde müssten die Verbraucher selbst ein Netz ehrenamtlicher Kontrolleure aufbauen. Doch wer will sich schon ansehen, wie 3.000 Hühner (Obergrenze für Biobetriebe - wenn das keine Massentierhaltung ist!) in einer Halle koten, kreischen und wegen Sozialstress panisch von Brett zu Brett hüpfen? Ein reines Gewissen kann man sich nicht erkaufen. Darum bleiben uns nur die Skandale als das bisschen Realität, das ans Tageslicht kommt.
Hilal Sezgin ist Schriftstellerin und taz-Kolumnistin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
BSW in Thüringen
Position zu Krieg und Frieden schärfen