Kommentar Bundespräsidenten-Wahl: Nach den Gauck-Festspielen
Dass Wulff als Bundespräsidenten-Kandidat im ersten Wahlgang eindeutig durchfiel, zeigt, wie tief die Gräben im Regierungslager sind. Doch auch das Grinsen von SPD-Chef Gabriel täuscht.
D ieser Denkzettel ist mit fetten Lettern beschrieben. Dass es knapp werden könnte im ersten Wahlgang, war klar. Aber dass Christian Wulff als Kandidat der Regierungskoalition beim ersten Versuch so eindeutig durchfallen würde, zeigt, wie tief die Gräben im Regierungslager tatsächlich sind. Und wie viele Widersacher beide Chefs haben.
Bei so vielen fehlenden Stimmen haben sich nicht nur FDP-Mitglieder von Westerwelle abgewandt. Auch Kanzlerin Merkel gelingt es nicht mehr selbstverständlich, wofür die Union jahrzehntelang stand: Die Reihen zu schließen, wenn es drauf ankommt. Jetzt geht es in die zweite Runde und alles ist offen. Gut möglich, dass es Wulff dann schafft und Merkel und Westerwelle in der Pause zwischen den Wahlgängen genug Druck aufgebaut haben, um die Abtrünnigen auf Spur zu bringen.
Wenn es so kommt, darf Joachim Gauck nicht ins Schloss einziehen. Gleichwohl wird er trotzdem der einzig wirkliche Gewinner in diesem denkwürdigen Moment der deutschen Geschichte sein. Bei einer Direktwahl wäre sowieso er es gewesen, der ins höchste Amt des Staates gewählt worden wäre. Dass der Bürgerrechtler und evangelische Pfarrer aus dem Osten auch im Parlamentsgebäude für so viel Aufruhr sorgte, zeigt, dass er - zumindest für den Moment - Fähigkeiten mitbringt, die sich die Menschen von ihrem Bundespräsidenten erhoffen: Glaubwürdigkeit durch gelebtes Leben.
Ines Pohl ist Chefredakteurin der taz.
Natürlich werden die Sozialdemokraten versuchen, den Verlauf der Bundespräsidentenwahl auch als ihren Sieg zu verkaufen. Vom Grinsen Sigmar Gabriels sollte man sich aber keinesfalls in die Irre führen lassen. Was, geneigte Opposition, wird denn am Ende dieser Gauck-Festspiele übrig bleiben? Nichts. Außer der Tatsache, dass Grüne und vor allem die SPD einmal mehr gezeigt haben, dass sie Merkel ordentlich ärgern können. Das mag Spaß machen. Das ist aber keine in die Zukunft gerichtete Politik. Realisierbare Vorstellungen vom Gestalten einer Gesellschaft sehen anders aus.
Damit kommen wir zum wirklich großen Verlierer dieses Spektakels: Die Linkspartei. Sie hatte es in ihren Händen, einem rot-rot-grünen Bündnis eine realpolitische Perspektive und mit Gauck ein kluges und glaubwürdiges Gesicht zu geben. Diese Chance hat die Linkspartei vertan. Auch sie verantwortet fünf Jahre Wulff als ersten Mann im Staate.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Trump erneut gewählt
Why though?
Harris-Niederlage bei den US-Wahlen
Die Lady muss warten
Pro und Contra zum Ampel-Streit
Sollen wir jetzt auch wählen?
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
US-Präsidentschaftswahlen
Die neue Epoche
Pistorius stellt neuen Wehrdienst vor
Der Bellizismus kommt auf leisen Sohlen