Kommentar Boliviens Verfassung: Suche nach dem sozialen Kompromiss

Mit der neuen Verfassung wird die Spaltung Boliviens nicht überwunden. Dabei hätte Morales die Mehrheit hinter sich, wenn er dieses Ziel verfolgen würde.

Bolivien hat mit einem deutlichen Ja für eine neue Verfassung gestimmt. Doch wer, wie Präsident Evo Morales, die Latte selbst auf "60, 70 oder 80 Prozent" legte, der kann sich mit den bisher verkündeten 58,7 Prozent nicht als Gewinner präsentieren. Schließlich wurde die neue Verfassung damit von 41 Prozent der Stimmberechtigten abgelehnt. Das macht Morales' Erfolg zur halben Niederlage.

Bolivien befindet sich in einer Phase des Übergangs, die lange vor der Wahl des ersten indigenen Präsidenten 2005 begonnen hatte. Die Konflikte brechen mal am Verhandlungstisch, mal auf der Straße auf. Demokratische Regeln wurden missachtet, Tote und Verletzte hat es gegeben, oft war von einem drohenden Bürgerkrieg die Rede. Die neue Verfassung setzt diesen Konflikten nun kein Ende: Sie ist nur ein Etappenziel auf dem Weg der bolivianischen Gesellschaft, zu einem sozialen Kompromiss zu finden. Wie dessen Formel einmal lauten wird, ist noch offen. Auch, ob diese Frage am Verhandlungstisch oder auf der Straße oder – hoffentlich nicht – aus den Gewehrläufen entschieden wird. Die jahrhundertelange Ausgrenzung der indigenen Bevölkerungsmehrheit von solchen Entscheidungen geht jedoch eindeutig zu Ende.

Die Verteilung der Stimmen spiegelt die Spaltung des Landes wieder. Über 70 Prozent Zustimmung in den Hochlandprovinzen, klare Ablehnung im oppositionellen Tiefland. Indigene Arme hier, reiche Weiße - diese Unterscheidung jedoch wäre falsch. Richtig ist, dass der indigene Präsident Evo Morales eine Mehrheit hinter sich weiß, wenn er die Spaltung überwinden will. Noch im August 2008 wurde er per Referendum mit 68 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Aber seine Partei ist ebenso von Klüngeln und Seilschaften durchzogen wie die Opposition, auf die er so gerne schimpft.

Am Sonntag hat in Bolivien bereits der Wahlkampf begonnen, denn mit der neuen Verfassung stimmten die Menschen auch für vorgezogene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Dezember. Evo Morales hat jetzt die Erlaubnis, wieder antreten zu dürfen. Seiner Wiederwahl steht, aus heutiger Sicht, nichts im Wege.

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Kommt aus Karlsruhe. Studierte Politische Wissenschaft in Hamburg und Berlin und arbeitete zwölf Jahre als Redakteur und Geschäftsführer der Lateinamerika Nachrichten in Berlin. Seit 2005 lebt er in Buenos Aires. Er ist Autor des Reisehandbuchs “Argentinien”, 2024, Reise Know-How Verlag.

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