Kommentar Blasphemie: Beruhigt euch!
Über die Motive für das Schmähvideo und die Mohammed-Karikaturen lässt sich spekulieren. Die Empörung darüber teilen die meisten Muslime jedenfalls nicht.
W arum haben manche Leute in den USA und Europa nichts Besseres zu tun, als sich über einen Glauben lustig zu machen, dem in den eigenen Ländern nur eine Minderheit anhängt?
Über die Motive evangelikaler Christen und französischer Satiremagazine, sich vorzugsweise den Islam als Zielscheibe für Spott und Häme auszusuchen, lässt sich lange spekulieren. Man könnte sie auch einfach ignorieren – wenn da nicht die Fanatiker wären, die von Karthum bis Karatschi vor westlichen Botschaften demonstrieren und ihren Kritikern den Gefallen tun, genau dem Klischeebild zu entsprechen, das von ihnen gezeichnet wird.
Doch die Proteste sind nicht repräsentativ für die Muslime insgesamt. Es sind vielmehr die üblichen Verdächtigen, die – wie schon beim Streit über die dänischen Mohammed-Karikaturen vor sieben Jahren – auch jetzt wieder laut und brutal die Berichterstattung prägen. Auch der Anschlag auf die US-Botschaft in Bengasi oder das Selbstmordattentat in Kabul ist nicht typisch für die Proteste, die in den meisten Ländern friedlich verlaufen. Viel spricht dafür, dass örtliche Al-Qaida-Kader dahinterstecken.
Militante Dschihadisten, radikale Islamisten und islamistische Regime im Iran und im Sudan wollen den Zorn über die Islamschmähungen im Westen für ihre Zwecke nutzen, um die moderaten Kräfte in der Region in die Enge zu treiben. Doch die arabische Welt hat sich seit dem Arabischen Frühling gewandelt.
Die meisten Menschen dort sehnen sich nicht nach radikalen Parolen, sondern nach Freiheit, Brot und Arbeit. Und die Stimmen gegen die islamistischen Hardliner sind lauter geworden: In Bengasi haben schockierte Bürger ihre Abscheu über den Mord an dem beliebten US-Botschafter auf die Straße getragen, in Ägypten haben konservative Autoritäten wie der TV-Prediger Jussuf al-Qaradawi die Gewalt klar verurteilt.
Fehl am Platz ist deshalb die Angstlust, mit der manche im Westen jetzt vor einem „Flächenbrand“ warnen. Es ist zwar richtig, an ausländischen Botschaften in der Region die Sicherheitsvorkehrungen zu verstärken; doch die überwältigende Mehrheit der 1,5 Milliarden Muslime weltweit hat – wie schon beim Karikaturenstreit vor sieben Jahren – andere Sorgen, als sich über Kunst zu echauffieren.
Ein guter Grund, an alle Seiten zu appellieren: Beruhigt euch!
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Leak zu Zwei-Klassen-Struktur beim BSW
Sahras Knechte
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen
Friedensforscherin
„Wir können nicht so tun, als lebten wir in Frieden“
Nach Hitlergruß von Trump-Berater Bannon
Rechtspopulist Bardella sagt Rede ab
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Wahlentscheidung
Mit dem Wahl-O-Mat auf Weltrettung