Kommentar Aufstand in Ägypten: Im Zweifel für die Potentaten
Jahrelang unterstützen europäische Mächte die arabischen Regime und schwiegen zu deren Verbrechen. Jetzt sind sie auf einmal ganz schnell mit ihren Urteilen. Zu spät.
N ach langen Jahren, in denen die europäischen Mächte und die EU die arabischen Gewaltherrscher unterstützten und sich ausschwiegen angesichts massiver Menschenrechtsverletzungen, ist jetzt hektische Aktivität ausgebrochen. Bereits am Wochenende hatten Angela Merkel, Nicolas Sarkozy und David Cameron den ägyptischen Präsidenten aufgefordert, "einen Wandel einzuleiten". Dies zu einem Zeitpunkt, als von den ägyptischen Demokraten der sofortige Rücktritt von Mubarak als Grundbedingung für Verhandlungen gefordert worden war.
Am Donnerstag haben sich zu der Dreierrunde noch Italiens Silvio Berlusconi und Spaniens Luis Zapatero gesellt. Die fünf Kernmächte der EU verurteilten jede Gewaltanwendung in Ägypten, traten für das Demonstrationsrecht ein und verlangten von dem Militär, dieses Recht zu schützen. Zentrale politische Forderung war ein "schneller und geordneter Übergang zu einer Regierung, die die Bevölkerung stärker vertritt". Lady Ashton, Außenministerin der EU, sekundierte. Sie forderte, "das Volk vom Militär beschützen zu lassen".
Zu wenig, zu spät. In den Augen oppositioneller arabischer Demokraten haben die europäischen Mächte und die EU jede Glaubwürdigkeit in Sachen Menschenrechte eingebüßt. Wo in den vergangenen Jahren seitens der Europäer Menschenrechte postuliert und - wie im Fall der nordafrikanischen Maghreb-Staaten - in Vertragswerke mit der EU niedergelegt wurden, blieben sie auf dem Papier.
CHRISTIAN SEMLER, 72, arbeitet seit 1989 für die taz. Für seine Unterstützung der demokratischen Bewegungen im Ostblock erhielt er 2010 von Polens Präsident Komorowski die Dankesmedaille des Europäischen Zentrums der Solidarnosc.
Notorische Gewalttäter wie noch wenige Wochen vor Beginn des Aufstands Tunesiens Ben Ali wurden Lieblingskinder der EU. Und Westerwelle - ganz sicher in Übereinstimmung mit der EU - lobte Mubarak als "einen Mann enormer Erfahrung, großer Weisheit, der die Zukunft fest im Blick hat".
Das Verhalten der EU zu arabischen Potentaten ist kein bedauerlicher Einzelfall. Unter vielen Beispielen für die Menschenrechtspolitik der EU nur eines: Dem usbekischen Potentaten Karimow wird von der EU im Januar 2011 der Teppich ausgerollt, obwohl seine Verbrechen notorisch sind. Gegen Karimow hatte die EU nach dem von ihm befohlenen Massaker in Andischan 1996 Sanktionen erlassen. Sie wurden 1999 wiederaufgehoben, ohne dass irgendetwas aufgeklärt worden wäre.
Wo immer die EU für ihre Mitgliedsländer zentrale Positionen in Stellung bringt - Abwehr der Flüchtlinge an den Mauern der Festung Europa, Sicherung der Energiequellen -, überall ist ihr jeder Gewaltherrscher recht, soweit er Stabilität zu verbürgen scheint. Es ist dieser Fetisch Stabilität, für den die EU jetzt die Quittung erhält.
Lady Ashton hat gegenüber der Forderung, die EU müsse vernehmlich und nachhaltig Menschenrechtsverletzungen anprangern, auf das Primat der "stillen Diplomatie" verwiesen. Die Resultate dieser Politik sind ärmlich. Der Schaden aber, der durch die selektive Behandlung von Menschenrechtsverletzungen für die Glaubwürdigkeit der EU entstanden ist, wird schwer zu reparieren sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland