piwik no script img

Kommentar Arm-Reich-SchereVom Vermögen der Mittelschicht

Ulrike Herrmann
Kommentar von Ulrike Herrmann

Wegen der tiefsten Rezession der Nachkriegszeit muss sich die Mittelschicht der Entwicklung zu einer neuen Klassengesellschaft stellen. Das ist ohne Vorbild.

D eutschland rauscht in die tiefste Rezession seit der Nachkriegszeit. Doch die meisten Deutschen verfügen kaum noch über ein Vermögen, mit dem sie Reallohnkürzungen oder Arbeitslosigkeit überbrücken könnten. Wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) jetzt ermittelt hat, hat die Hälfte aller Deutschen eigentlich gar keinen Besitz: Maximal 15.000 Euro nennen sie ihr Eigen. Nur die Reichen werden immer reicher. Die Mittelschicht rangiert zwar definitionsgemäß noch immer in der Mitte, aber die gediegene Sicherheit, die mit diesem Begriff verbunden wurde, sie ist verschwunden.

taz

Ulrike Herrmann ist Redakteurin für Wirtschaftspolitik der taz.

Diese gespaltene Gesellschaft wird nun von einem dramatischen Abschwung erfasst, für den es im Gedächtnis der Lebenden kein Vorbild gibt. Niemand weiß, was das Minus von 2,25 Prozent konkret bedeuten wird, das die Regierung am Mittwoch offiziell prognostiziert hat. Sichtbar ist bisher nur, dass die Wirtschaft eine Vollbremsung hinlegt. Die Exporte brechen ein, die Automobilindustrie beantragt Kurzarbeit, die Banken melden immer neue Verluste.

Diese schwere Krise ist beispiellos. Aber genauso beispiellos ist, dass die Normalbürger schon vom vorangegangenen Boom nicht mehr profitiert haben. Es gehörte immer zur Erzählung der Bundesrepublik, dass in den Krisen "der Gürtel enger geschnallt" wird - auf dass in guten Zeiten jeder seinen Anteil erhält. Dieses ideologische Fundament gerät nun ins Rutschen. Inzwischen ist nur noch die Hälfte der Bundesbürger von der sozialen Marktwirtschaft überzeugt. Gleichzeitig sind Dreiviertel der Bevölkerung der Meinung, dass es in Deutschland ungerecht zugeht. Und sie täuschen sich nicht, wie die neueste DIW-Studie zeigt. Noch schlimmer: Durch die Finanzkrise wird die soziale Spaltung weiter zunehmen.

So startet die Bundesrepublik in ein sozioökonomisches Experiment, für das es keine historische Schablone gibt: Die Exportnation Deutschland muss lernen, sich von Exporten unabhängiger zu machen. Und die vermeintliche Mittelstandsgesellschaft muss sich der Realität stellen, dass sie sich wieder zu einer Klassengesellschaft entwickelt.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Ulrike Herrmann
Wirtschaftsredakteurin
Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).
Mehr zum Thema

8 Kommentare

 / 
  • A
    Amos

    Alle wissen woran es liegt-, dass wir jetzt so da

    stehen. Aber das Unverständliche daran ist, dass

    man seit Jahrzehnten dieselben Köpfe sieht. Haben die sich selbst gewählt? Und jetzt wieder das Wahlergebnis in Hessen. Man wählt eine Partei,

    die für ein Zockersystem ist und gegen Mindestlöhne.

    Da fragt man sich doch......?

  • M
    manfred (57)

    Der Kommentar von Frau Herrmann enthält eine grundlegend falsche Aussage. Nein, Frau Herrmann, diese Gesellschaft entwickelt sich nicht zu einer "neuen" Klassengesellschaft, sie ist immer eine Klassengesellschaft gewesen. Nicht zuletzt die Medien haben dazu beigetragen, diese Wahrheit zu kaschieren. Der Zwang, das zu verstecken, war dem kalten Krieg, mithin der Existenz des Ostblockes, geschuldet. Nachdem der zusammengebrochen ist, besteht keine Notwendigkeit mehr, den Klassencharakter der westlichen Gesellschaften zu verbergen. Da kann man auch auf das "Soziale" in der Marktwirtschaft verzichten. Der Mensch als Wert an sich verschwindet, er wird zur ökonomischen Größe degradiert. Und die Folgen sind offensichtlich: Je größer die Zahl der Arbeitslosen, desto besser funktioniert das Lohndumping. Gesundheit wird zur Ware nach dem Motto "Zahl oder krepier". Der Mensch, der nicht konsumieren will oder kann, wird zum Störfaktor. Die Politiker haben in dieser Gesellschaft nur eine Funktion: Sie sollen den Raubzug gegen die Mehrheit der Bevölkerung rechtlich absichern. Und das funktioniert seit Adenauer und Erhard ganz reibungslos. Und damit wir das nicht merken sollen, wird jeder Furz zum Event erhoben, es wird gefeiert, bis der Kahn abgesoffen ist. Niemand will ernsthaft an die Ursachen der Krise. Das würde bedeuten: Keinen Cent für das weiter so, sondern erst einmal ein Konzept für die Weiterentwicklung der Gesellschaft. Aber diese Konzept bleiben uns die Herrschenden schuldig.

     

    "Der Staat ist das Machtinstrument der jeweils herrschenden Klasse." - wie wahr dieser Satz ist, wurde in der Nachkriegszeit selten so deutlich wie heute.

  • H
    hto

    Das sorgsam gepflegte UNVERMÖGEN der Mittelschicht, ist der geistige Stillstand seit der "Vertreibung aus dem Paradies" - der Glaube an "soziale Errungenschaften" und "Wirtschaftswunder", aus Liebe zur Sündenbocksuche in stumpf- wie wahnsinnigen Hierarchie von materialistischer "Absicherung"!

  • H
    hto

    Zitat Ulrike Herrmann: "Wegen der tiefsten Rezession der Nachkriegszeit muss sich die Mittelschicht der Entwicklung zu einer neuen Klassengesellschaft stellen. Das ist ohne Vorbild."

     

    Das Vorbild ist die zeitgeistliche Bildung zu reformistischer Dummheit / Kommunikationsmüll in systemrationaler Suppenkaspermentalität - Illusionen nach Maß der Globalisierung zur Dienstleistungsgesellschaft!

  • V
    vic

    Neuester Hit der Regierung. Künftig sinkt die KFZ Steuer für hubraumstarke Protzkisten um mehrere hundert Euro. Für einen Golf oder Fiat um 5 bis 10 Euro.

    Die Finanzkrise übrigends hat zum großen Teil die Regierung selbst zu verantworten. Geboren wurde das Drama überwiegend in den Landesbanken, und deren Beteiligungen und Spekulationen bei dubiosen Finazdienstleistern. Steinbrück ist der Zocker des Landes, seinen Mist bezahlen wir alle.

  • K
    Kramski

    Diese Spaltung beginnt nicht erst in der Finanzkrise und wird bisher m. M. nach auch noch nicht durch diese verstärkt. Sie begann, erst schleichend, bereits gegen Ende der Kohl-Jahre. Mit den sogen. 'Reformen' der rot-grünen (ja, auch die Grünen waren dabei)Regierungsjahre, d.h. als Folge von gewollten, absichtlich durchgeführten politischen Entscheidungen (Stichwort: Deregulierung, Neoliberalismus), hat sich die Kluft im Lande massivst vergrößert. Seither ist Massenarmut ein Thema! Allein 1 Million (!) mehr Kinder wurden während der rot-grünen Schröder-Regierung arm. Erinnern wir uns an die Rot/Grüne Agenda 2010 und wer Gewinner und Verlierer sind; Niedrigstlöhne, die Steuergesetzgebung usw. Zur Erinnerung: in der Bananenrepublik sind aktuell 13% der Menschen, ca. 11 Millionen, arm. 2,5 Millionen Kinder leben in Armut. Es interessiert die Politik in

    keinster Weise in ihrem Milliardenrausch. Aber wir und die Journalisten sollten manchmal daran denken. Schöne Grüße.

  • AE
    a.t. engel

    Es ist natürlich einfach, heute einem zu erklären, wie es zu dieser Krise gekommen ist,und warum es dazu kommen musste, und dass daran diese Banker, Spekulanten und Industribosse mit ihren hohen Gehältern und Prämien schuld sind. Die Politiker machen es sich da schon sehr leicht, und vergessen dabei aber zu sagen, dass das ganz einfach auch das Resultat von 25 Jahren bewusst geführter Politik ist.Und wenn hier jemand die Schuld trägt, dann sind es wohl in erster Linie die Politiker, die den Begriff "soziale Marktwirtschaft" solange ausgehöhlt haben bis einfach nichts mehr von ihm übrig war. Da können sich Schröder, Blair und Bush die Hand reichen.

    Resultat ist, dass wir heute in einer "Zocker"-Gesellschaft leben, bei der es letztendlich mehr Verlierer als Gewinner gibt. Und jetzt, nachdem man fleißig abgezockt hat, wird plötzlich von Moral geredet. Wirklich ändern will ja im Moment sowieso niemand was; die Milliarden, die im Moment in die Wirtschaft gepumpt werden, sind ja nur dazu da, um so weiter zu machen wie bisher. Hinter dieser wirtschaftlichen Krise verbirgt sich nur schlecht auch eine tiefe politische Krise.

  • DK
    Dr.Robb Kvasnak

    Langsam wird es auch den Bürgern in Deutschland klar, wie es auch hier in den USA uns klar wird, dass der uneingeschränkte Glauben an die Geschicklichkeit der grossen Finanztiere nur die grossen Finanztiere selbst reich macht. Die Banken, Versicherungsgesellschaften und die grossen Unternehmen scheren sich um uns. Es geht ihnen um Profit. Und wenn wir eine Gesellschaft, die Profit als höchstes Ziel vorschreibt, haben wir nur uns selbst für den Schlamassel zu danken. Ist das Streben nach Profit nicht die Grundlage des "reinen" Kapitalismus? Unsere Herausforderung ist nämlich das wir mit diesem System (Kapitalismus) eigentlich sehr erfolgreich sind! Wir haben den Profit zum Goldenen Kalb erhoben und wir jetzt haben wir es geschafft, dass die Profitnehmer gewonnen haben. Das einzige Problem, die meisten von uns werden aussen vor gelassen.