Kommentar Arbeitslosenzahlen: Das fahrlässige Versprechen
Die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern wird zunehmend größer. Zwar sinken die Arbeitslosenzahlen, doch immer mehr Menschen benötigen Hartz IV, obwohl sie einen Job haben.
D ie neuesten Arbeitslosenzahlen beinhalten gute Nachrichten. Nur noch 3,16 Millionen Menschen ohne Job, das sind über eine halbe Million weniger als im Juni des Vorjahres. Damit ist die Arbeitslosigkeit auf den niedrigsten Wert seit über 15 Jahren gesunken - wer sich bemüht, findet also leichter eine wie auch immer geartete Arbeit. Dennoch ist das Versprechen der Koalition, in Kürze Vollbeschäftigung in Deutschland zu erreichen, eine haltlose und fahrlässige Übertreibung.
Das ach so hell leuchtende Jobwunder offenbart bei genauerem Hinschauen schnell dunkle Flecken: wie etwa die Statistik, die nur einen Teil der Wirklichkeit erfasst. Mehr als 1,1 Millionen Menschen fallen nach Schätzungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes aus dem Zahlenwerk, weil sie sich in Altersteilzeit befinden, als 1-Euro-Jobber arbeiten oder in öffentlich bezuschussten Arbeitsmaßnahmen stecken. Mehr als 740.000 Arbeitssuchende melden sich schlicht nicht beim Arbeitsamt, weil sie keine Ansprüche auf Unterstützung haben.
Gleichzeitig spiegelt der Jobmarkt eine dramatische gesellschaftliche Entwicklung: Die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern wächst - mit gravierenden Folgen. Während ein Maschinenbau-Ingenieur zwischen mehreren gut dotierten Angeboten wählen kann, bekommen Geringqualifizierte und Ungelernte zu spüren, wie wertlos sie auf dem Markt Arbeit sind. Ein Beleg von vielen: Im Februar mussten 1.286.000 erwerbstätige Menschen ihre Löhne mit Hartz IV aufstocken, um überleben zu können - im Vorjahr waren es gut 170.000 weniger.
Solche Risikogruppen - zu ihnen zählen auch Alleinerziehende, Migranten oder Schulabgänger ohne Ausbildungsstelle - zu schützen, wäre in Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs die wichtigste arbeitsmarktpolitische Aufgabe der Regierungskoalition. Doch ausgerechnet in diesem Punkt versagt sie. Ideen wie flächendeckende Mindestlöhne oder unbürokratische Bildung für Arbeitslose sind fromme Wünsche der SPD, sie werden aber von der Union blockiert. Noch überstrahlt der wirtschaftliche Aufschwung dieses Versagen, doch Ökonomen sagen bereits eine kommende Abschwächung voraus - pünktlich im Wahljahr 2009.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Berliner Kultur von Kürzungen bedroht
Was wird aus Berlin, wenn der kulturelle Humus vertrocknet?