Kolumne: Trickbetrug an der Vergangenheit
Familiäre Rituale sind nicht durch Marotten zu ersetzen - und seien sie auch noch so liebenswürdig
F rüher, als er noch jung und schön war, hat Peter OToole mal den Lawrence von Arabien gespielt. Darin gibt es eine tolle Szene, in der Lawrence, ohne mit der Wimper zu zucken, an einem Streichholz sich die Finger verbrennt und alle anderen wissen wollen, was der Trick dabei ist.
Arno Frank, 36, ist taz-Redakteur. Er kann lesen und schreiben. In
seiner Freizeit spielt er gerne Flipper, hört schlechte Musik, schaut
sich gute Pornos an und erschlägt manchmal kleine Hunde.
Neulich hat der alte Mann dem englischen Guardian auf die Standardfrage seiner sozialen Herkunft eine interessante Antwort gegeben: "Whoever says that I come from the working class is wrong. Im definitely from the criminal classes." In der Arbeiterklasse, so OToole, sei immerhin geschuftet worden, eine ehrwürdige Form des Broterwerbs. Seiner Familie dagegen hätten sich nur Hütchenspieler, Heiratsschwindler und Trickbetrüger herumgetrieben. Genau wie in meiner Familie!
Echte Kriminelle handeln wenigstens mit festverzinslichen Wertpapieren bzw. Fußballern und leiten Pharmakonzerne bzw. Bild-Zeitungen, solche Sachen. Wer mit wirklich kriminellen Eltern aufwächst, trägt Gucci, geht im Internat auf die Schule und studiert später in Südafrika "international law" oder so.
Dagegen ist das kleinkriminelle Milieu so ungefähr das Tristeste, was man sich nur vorstellen kann. Der Kleinkriminelle ist deswegen kleinkriminell, weil er's zum echten Kriminellen nicht geschafft hat. Kinder solcher Familien tragen Klamotten vom Sozialamt, alle zwei Wochen kommt das Jugendamt zu Besuch, und wenn die Polizei vorbeischaut, dann versteckt der Vater sich im Kleiderschrank.
Umso mehr freue ich mich an meiner Familie, die ihre kleinkriminellen Wurzeln hinter sich gelassen hat und nur noch lose, aber umso herzlichere Bindungen kennt, zu deren routinemäßigen Wartung ein paar Telefongespräche oder E-Mails ausreichen müssen. Meine Mutter ist Rentnerin und lebt im Südwesten der Republik, wos waldig und schön ist. Meine Schwester ist Mutter und lebt im Südwesten von Europa, wos sonnig und noch schöner ist. Nur mein jüngerer Bruder, ein Herr Student der Juristerei, lebt bei mir gleich um die Ecke. Meinen Freunden stellt er sich gern mit dem leicht anmaßenden Satz vor: "Guten Tag, ich bin die Version 2.0."
Tatsächlich ist er viel schöner, sportlicher und cleverer als ich, da beißt die Maus kein Faden ab.
Nun hat aber meine Mutter die lästige Angewohnheit, jedes Telefonat in der sentimentalen Formel: "Und gib deinem Bruder nen Kuss von mir, ja?" ausklingen zu lassen. Auch meine Schwester bittet regelmäßig darum, ich solle doch "für sie" unseren Bruder "drücken", wenn ich ihn mal wieder sehen sollte.
Fatalerweise bleibt auch mein Bruder, wann immer er mit unserer Mutter oder auch Schwester zu tun hat, von derlei zärtlichen Anliegen nicht verschont.
Und weil wir beide solche Dinge sehr ernst nehmen, kommt es in stillem Einverständnis zwischen uns oft an den unmöglichsten Orten zu hingehauchten Küssen und einfühlsamen Streicheleinheiten, zu weichgezeichneten Szenen innigster Zuwendung und Zärtlichkeit also, wie man sie zuallerletzt von Brüdern, sondern eher von einem Schwulenporno aus den Siebzigerjahren erwarten würde, wenn überhaupt. Schön ist das nicht. Eher "irritierend" und "irgendwie krank", wie uns Umstehende dann immer versichern, bevor sie kopfschüttelnd das Weite suchen. Es muss aber sein.
Neulich war es wieder so weit. Ich hatte meinen Bruder eingeladen, wir wollten uns erst ein paar "Southpark"-Folgen und dann "Lawrence von Arabien" auf DVD anschauen. Meine Schwester hatte mich diesmal scherzhaft gebeten, ihm "einen Zungenkuss" von ihr auszurichten. Mit frisch geputzten Zähnen lauerte ich meinem Bruder schon vor der Wohnungstür auf, er sollte sein blaues Wunder erleben. Da kam Version 2.0 auch schon die Treppe hochgefedert und hob, als er meine libidinösen Absichten erkannte, abwehrend die Hände: "Ey Alter, nee, echt. Ich soll dir diesmal gar nichts von niemandem ausrichten, okay?"
Ich war verdutzt. Aber müssen wir nicht alle mal erwachsen werden und die Vergangenheit begraben? "Der Trick ist", sagte später Peter OToole, "sich nichts daraus zu machen."
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