piwik no script img

KolumneHimmlische Regen-Performance

Kommentar von Christiane Rösinger

Tags heißt es auf der documenta 12 "Gegen Lobbyismus in der Kunst" - nachts bedenklicherweise "Bürgerstolz & Stadtfrieden".

K assel ist voller Wunder, und obwohl die Stadt recht überschaubar ist, kommt der angereiste Documenta-Neuling aus dem Staunen nicht mehr heraus. Da gibt es junge Platinkreditkarteninhaber mit persönlichen Schirmträgerinnen, Kunstenthusiastinnen schlitzen blaue Müllsäcke auf und ziehen sie als Regencape kopfüber, Menschen warten minutenlang bei leerer Fahrbahn bis die Ampel auf Grün schaltet,

Bild: taz/zeichnung: dieter Jüdt

Christiane Rösinger, Musikjournalistin und Sängerin der Band "Britta", arbeitet in Kassel im Container des documenta-Buchladens. Anlass für die ein oder andere Kolumne.

Kassler Kunstdandys in schlecht sitzenden Anzügen und weißen Schuhen flanieren gehetzt über den Friedrichplatz. "Gehört das hier so oder ist das eine Installation?", fragt sich die kunstferne Besucherin ein ums andere Mal. Auch der Himmel entpuppt sich als große Performancemaschine und fährt das ganze Repertoire auf: Da gibt es den plötzlichen Platzregen, den reinigenden Gewitterregen, den stumpfen Nieselregen und den ausdauernden Bindfadenregen und kaum sind die Kleider getrocknet, geht ein ergiebiger Landregen auf die hessische Kunstmetropole nieder. Abends ziehen alle zur Lolitabar, der Kasseler Szenelocation, die sich vorgenommen hat unter dem Motto "Bürgerstolz & Stadtfrieden" - auf Englisch "Citizen Pride & Urban Peace" - 101 Tage lange "Art, Culture and Life" zu bieten.

Noch interessanter ist es tagsüber auf der Truman-Show-artig unwirklichen Freifläche vor dem Friedericianum. Der Schandfleck "nicht blühendes Mohnfeld" liegt in voller Brache, ständig glaubt man desorientierte Chinesen zu sehen. Hat doch der Künstler Ai Weiwei 1001 Landsleute aus sämtlichen Provinzen nach Kassel importiert, um bei den in Sachen Kunst Verschickten das wichtige Grundgefühl der Verlorenheit zu evozieren.

Der Besuch des Bundespräsidenten war ein weiteres großes Highlight des ersten Tages. Zwei niedliche Demonstrationen hatten sich formiert: Zwei junge Frauen protestierten auf einem Stuhl mit einem Plakat gegen den "Lobbyismus in der Kunst" und ein launiger Einzeldemonstrant mit neckischem violett-schwarz gestreiftem Zylinder forderte mehr Demokratie. So kann man aber beim besten Willen dieses von Weiwei geforderte wichtige Grundgefühl der Verlorenheit in Kassel nicht empfinden.

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!