Kolumne Unter Schmerzen: Neues vom Ü-Pol

Es wird gestorben und gestorben. Dann ist da dieser schöne Moment, in dem man feststellt, man ist nicht tot. Das ist Macht.

Der Tod sitzt neben zwei beflaggten Särgen

Von wem er das wohl hat, der Sensenmann? Foto: dpa

Seit der letzten Woche wurden unter anderem überlebt: Arthur Cave (15), Sohn von Nick Cave, Todesursache tragischer Unfall (von einer Klippe gestürzt); Philipp Mißfelder (35), Todesursache: Lungenembolie; Hans Barlach (59), Todesursache: Lungenentzündung.

Im Ankündigungsblättchen der Berliner Schaubühne, das kürzlich der lokalen Ausgabe unserer kleinen Zeitung beilag, gibt es ein lesenswertes Interview mit dem „Literaturwissenschaftler, Kulturtheoretiker und Schriftsteller“ Klaus Theweleit. Theweleit, Autor der „Männerphantasien“, gibt Auskunft über Motive und Ursachen von Amokläufern wie Breivik und entwirft die These von der „Angst vor dem fragmentierten Körper“.

Von Breivik zu Mißfelder oder Barlach ist es ein Sprung; dennoch habe ich mich gefragt, wie das mit den anderen Körpern ist, wieso sie nach oder während einer Krisensituation zugrunde gehen, sich von Klippen stürzen oder angeblich unbemerkt tödliche Embolien oder Entzündungen ausbilden. Hat nicht kürzlich in einer Kolumne gestanden, ich glaube, es war bei Spiegel Online, dass Konservative an sich die glücklicheren Menschen sind? Wie kann es dann den ehemaligen Vorsitzenden der Jungen Union (sic!) mit 35 Jahren innerhalb von wenigen Tagen so dahinraffen? Oder laufen diese Politiker tatsächlich mit rundumbetäubten Körpern herum, von denen sie erst etwas merken, wenn sie (beispielsweise beim Skilanglauf) stürzen?

Bei Theweleit findet sich keine Antwort, auch weil nicht danach gefragt worden ist. Mein Lieblingsgedanke von ihm war immer der, dass man gar nicht stirbt, sondern umgebracht wird.

Die Toten kommen

Ein anderer Gedanke war der des sogenannten Ü-Pols. Das Ü steht für Überleben, und das ist, so Theweleit mit Elias Canetti im „Buch der Könige“, das Prinzip des/der Herrschenden: „Der Augenblick des Überlebens ist der Augenblick der Macht“, schrieb Canetti. „Der Schrecken über den Anblick des Todes löst sich in Befriedigung auf, denn man ist nicht selbst der Tote.“ Aus dieser Perspektive ließe sich auch das Kunsthappening „Die Toten kommen“ des Zentrums für politische Schönheit von kürzlich noch einmal anders kritisieren: Indem man die Toten des Mittelmeers ins Berliner Regierungsviertel schafft, führt man der Macht lediglich ihre Macht vor.

Man bestätigt sie.

Canetti geht noch einen Schritt weiter: „Je größer der Haufen der Toten ist, unter denen man lebend steht (…) um so stärker (…) wird das Bedürfnis nach ihm“, und Theweleit bringt es auf den Punkt: „der Leichenhaufen als stehende Einrichtung vor dem Palast des Machthabers“.

Auch über Pausen schreibt Theweleit. Über Zwangspausen körperlicher Art, Psychoanalyse, Auszeiten, Krankheiten, Motorradunfälle, die „man sich nimmt“, um sich zu verwandeln, um dem System für eine Zeit lang zu entkommen. Gelingt nicht allen, und manche kommen dabei um.

„Ende 2014“, schreibt Deutschlandradio Kultur in einem Nachruf, „unterlag er der Verlagserbin Ulla Unseld-Berkéwicz vor Gericht – nun ist der Suhrkamp-Aktionär (…) an einer Lungenentzündung gestorben.“

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