Kolumne Trends und Demut: Der weltgrößte Gerichtssaal
Der investigative Bürger und seine Dokus: Wie verwackelte Handyvideos auf Youtube von Amateurnachrichten zu moralischen Instanzen mutieren.
W enn Rapmusik nach Ansicht von Chuck D das CNN für die schwarzen Amerikaner war, dann sind Smartphones wohl die neuen Überwachungskameras des machtlosen Bürgers. Investigative Waffen mit messerscharfer 960-x-640-Pixel-Displayauflösung und treuer Dauerverbindung zu YouTube, Twitter und Facebook.
Was hier tagtäglich für die Welt hochgeladen wird, ist mehr als dokumentarisch anmutende Amateurnachrichten. Verwackelte Handyvideos mutieren zu moralischen Instanzen. Mit den Besitzern als selbsternannten Richtern im Kampf gegen den wahren Sadismus in unserer Gesellschaft, bloßgestellt auf YouTube als dem größten und am zügigsten arbeitenden Gerichtssaal der Welt. Daumen hoch, Daumen runter!
Länder wie Großbritannien könnten im Grunde ihre Massen an Überwachungskameras wieder abschrauben und sich Millionen sparen, denn ihre Bürger nehmen die investigative Rolle längst selbst wahr. Tatsächlich werfen all diese Aufdeckungsfilmchen unseren Sinn für Realität ziemlich durcheinander, denn böse Sachen passieren nicht etwa auf einmal häufiger als früher. Wir haben nur plötzlich die Mittel, die tagtäglichen, gruseligen Ausrutscher bequem zu filmen, hochzuladen und uns, gemeinsam mit einer gesichtslosen Masse, kollektiv und endlos darüber aufzuregen.
Julia Grosse ist taz-Kulturkorrespondentin in London.
Der diffuse Mob
Wer an einem Abend blau am Tresen sitzt und unbekümmert rauslässt, wie gern er Frauen und Hundebabys quält, landet am nächsten Tag für sein Vergehen auf der YouTube-Anklagebank und wird von einem diffusen Mob verbal zerfetzt. So in etwa ist es kürzlich einer harmlos aussehenden Britin passiert, die in einer überfüllten Bahn in London anfing, die "nicht britisch" aussehenden Mitfahrer unfassbar derb anzupöbeln. Was wollt ihr in meinem Land, geht zurück in den Busch und so weiter.
Ihr rassitisches Gekeife wurde mit dem Handy gefilmt, und dank YouTube hatte die Frau innerhalb weniger Stunden zu den zwanzig hasserfüllten Mitfahrern noch zwei Millionen neue Feinde aus dem Netz dazugewonnen. Würde eine Zeitung so eine Nachhricht verbreiten, müssten zumindest ein paar Details zu Person und Kontext recherchiert werden. Der Besitzer eines Smartphones, der die Randalierende heimlich abfilmt, muss das Video einfach nur hochladen.
Eben das ist der unbefriedigende Aspekt beim Großteil dieser Dokus aus dem Volk: Alles wird allen zum Fraß vorgeworfen. Und doch können 960 x 640 Pixel zur richtigen Zeit am richtigen Ort manchmal für erschütternde Klarheit sorgen. So war eine schlechte Amateuraufnahme gut genug, um zu beweisen, dass ein Unbeteiligter während der G-20-Proteste in London von der Polizei niedergeschlagen wurde.
Und wahrscheinlich wäre John Galliano heute noch Dior-Chefdesigner, hätte ein Handyfilm nicht aufgedeckt, dass er seine Umwelt im Suff mit antisemitischen Tiraden belästigt.
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