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Kolumne SchlaglochEisenbahn, Eisenbahn

Herr Mehdorn könnte viel Gutes tun, wenn er die Bahn in Indien modernisieren würde.

S chon als kleiner Junge fuhr ich gerne mit der Eisenbahn./ Drückte mir die Nase platt, wenn da ein Tunnel kam. / Auf der Wiese staunten Kühe. Schäfchen fraßen grünes Gras. / Durch die Wälder über Flüsse. Mann, war das ein Spaß! / Eisenbahn, Eisenbahn / mit der Dampflok vorne dran. Lyrics: Wildecker Herzbuben

In meiner Kindheit hieß es, alle Jungen wollen Lokomotivführer werden. Ich habe aber damals nie einen Jungen getroffen, der Lokomotivführer werden wollte, und später hat mir kein Mann gestanden, dass dies in Wahrheit der Traumberuf seiner jungen Jahre war. Außer meinem Freund Schultz neulich, aber der ist schon fast 100 Jahre alt und kennt noch jede Dampflok bei ihrer Nummer. Vielleicht wollte bei uns im Ruhrgebiet kein Junge Lokführer werden, weil man zu der Zeit mit rußverschmierten Gesichtern weniger die Schienen verband, die die Welt bedeuten, als viel eher Staublunge, kaputte Knochen und Knappschaftskrankenhaus.

Dennoch hat sich der Mythos um den Lokomotivführer unverdrossen gehalten. Auch bei mir, die ich immer noch bei Nennung des Namens "Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer" (GDL) gerührte Gefühle bekomme, obwohl die in Wirklichkeit längst Triebfahrzeugführer heißen. Diese Rührung hat bestimmt etwas mit Lukas und Jim Knopf zu tun, aber auch mit dem romantischen Bild des letzten, echten Salzkorns der Erde: dem Arbeiter, der schuften muss wie ein Verfluchter im Hades und doch alle Räder stillstehen lassen kann, wenn er es will. In seine Obhut haben wir uns stets vertrauensvoll begeben, wenn wir das Land sicher auf Schienen durchqueren wollten, die Generationen vor uns aufgebaut haben.

Das Gute an dem derzeit ruhenden Triebfahrzeugführerstreik der Lokführergewerkschaft war, dass man Herrn Mehdorn nicht mehr sehen, aber vor allem seine Onkel-Dagobert-Thesen nicht mehr hören musste. Er dachte sich wohl, wenn er sich zu dieser Angelegenheit äußert, sind noch mehr Bürger auf Seiten der GDL. Da hatte er ganz richtig gedacht. Insofern könnte man sich fast wünschen, die GDL würde so weitermachen - ein bisschen drohen und streiken hier und dort -, nur damit Herr Mehdorn nicht mehr auftritt.

Allein: Die Alternative auf der anderen Seite fehlt. Denn die Rührung bei der Erinnerung an berühmte Lokführerdarsteller wie Buster Keaton und Jean Gabin verfliegt im Nu beim Anblick der ständig wechselnden GDL-Sprecher. Keinen von ihnen kann man sich wie weiland Keaton als Lokführer Jonnie Gray oder Gabins "Bestie Mensch" Lantier vorstellen, die als einsame Helden im Führerhaus einer aufgeheizten Lokomotive standen. Dabei wirkt Herr Weselsky fast so stoisch wie der schöne Stummfilmstar, wenngleich er nicht so tragisch umflort gucken kann. Zudem trägt er ein an beiden Seiten abgebissenes Baguette-Schnauzbärtchen, wie es Gabin nie unter die Nase gekommen wäre. Vielleicht kann man sich Weselsky aber auch schlecht als schwer schuftenden Lokführer vorstellen, weil er sowieso seit 17 Jahren keine Lok mehr gefahren hat und sich eben voll und ganz aufs Funktionärsdasein konzentriert hat.

Gibt es eigentlich etwas Unattraktiveres als den Funktionär? Wohl höchstens noch den designierten Funktionär im Ruhestand, der zur Kur geht, obwohl er laut eigenen Angaben gar keine Krankheit hat, die zu bekuren wäre. Aber dieses ihm zustehende Recht möchte der eigentliche Gewerkschaftsführer Schell auf jeden Fall noch vor Ausscheiden aus dem Funktionärsleben in Anspruch nehmen. Das ist die alte westdeutsche Denke, wie wir sie aus den Zeiten der Fettlebe kennen, als Vati sich alle 10 Jahre eine Kur mit angeheftetem Schatten gönnte und jede Kleinstadt mit Schwimmbad die obligatorische Taxe verlangte. Unter kämpferischen Arbeiterführern hatte ich mir jedenfalls immer etwas ganz anderes vorgestellt.

Aber je länger man lebt, desto größer sind eben auch die Chancen auf permanente Desillusionierung in unregelmäßigen Abständen. Dabei hatte man doch in der ersten Lebenshälfte genug damit zu tun gehabt, sich erst mal die passenden Mythen zurechtzupuzzlen: ewige Liebe und Stärke von Mama und Papa, die Freiheit Amerikas, der Rausch der Paarung, das Glück der eigenen Familiengründung, Selbstverwirklichung im Beruf, dazu die Zuverlässigkeit der Post, die Informiertheit des Spiegels, die Unbesiegbarkeit der israelischen Armee, Michael Jackson und eben die hart arbeitende, ehrliche Haut des Lokomotivführers - alles Lüge.

Kein Glaube ist uns geblieben.

Keiner - außer vielleicht der Glaube an Schönheit und Größe der Bahnidee.

Auch wenn der Ticketkauf einer buddhistischen Niederwerfungsübung gleicht, die Züge elend lang unterwegs sind und überdies noch zehn Stunden Verspätung haben können: Das Streckennetz von Indiens Eisenbahn ist riesig und nahezu perfekt, die Kommunikationsmöglichkeiten vielfältig, die rein- und rausströmenden Tee- oder Pakoraverkäufer so großartig wie der rund um die Uhr garantierte Unterhaltungsfaktor. Und die halbjährlich erscheinenden Kursbücher gehören zur unbedingten Pflichtlektüre eines jeden Reisenden. Zumindest das haben die Briten seinerzeit dort gut hingekriegt. Indien ohne Zugfahren ist undenkbar.

Indian Railways befördert täglich 14 Millionen Menschen und beschäftigt 1,6 Millionen (die Bahn hat nach eigenen Angaben nur 220.000 Arbeitsplätze). Wenn sich jetzt noch jemand bei diesem größten Arbeitgeber der Erde um Pflege, Wartung und Aufrüstung des tollen Netzes und seiner Maschinen kümmern würde, dann wäre das Vergnügen des Bahnfahrens dort ewig und vollkommen.

Das Bahnfahren durch die etwas kleinere Schweiz ist übrigens schon heute die reine Freude. Und man ist schneller durch als in Indien. Aus einem absolut defizitären staatlichen Desaster-Unternehmen hat sie es mit ihrer Reform zu einem wesentlich pünktlicheren, dafür nur halb so teuren Betrieb wie in Deutschland gebracht. Sie schaffte es mit ihrem flächendeckenden Halb- stundentakt tatsächlich, die eigensinnigen Eidgenossen vom Zugfahren zu überzeugen. Die Schweizer fahren jetzt im Jahr doppelt so viele Kilometer mit der Bahn kreuz und quer und rauf und runter durch ihr Land voller schönster Milchkühe und Lindtschokolade. Und schwarze Zahlen werden außerdem geschrieben - also echt globalisierungstauglich.

Herr Mehdorn könnte doch vielleicht in Indien bleiben, wo er ja gerade mit der Kanzlerin ist, statt hier an die Börse und uns auf die Nerven zu gehen. Er könnte sich dort um die Bahnmodernisierung kümmern, und kurz bevor er dann auch dort seiner Börsenobsession frönen will, schickt man ihm zum Bahnaufbau nach Afghanistan. Er hätte wirklich mal eine herausfordernde Aufgabe und keine aufsässigen Ossi-Streiker, die nicht wissen, wie man Kompromisse eingeht. Auf die Idee von 31 Prozent Lohnerhöhung käme dort kein Mensch - vorerst.

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1 Kommentar

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  • A
    A.Z.

    Meine Lösung - dein Problem, nicht wahr, Herr Zucker? Wo bleibt denn da der Internationalismus? Stellen Sie sich doch bloß mal vor, Herr M. bleibt tatsächlich in Indien hängen und ruiniert an Stelle der hiesigen die dortige Bahn - wie wollen Sie das dem sich ohnehin ständig weiter erwärmenden Klima erklären? Mit ihrer Liebe zum deutschen Automobil?