Kolumne Schlagloch: Ohne Begriffe kein Denken
Die Erinnerung an die 70er-Jahre-Linke ist die Basis für ein Vokabular der Gegenwart.
Mitte der Siebzigerjahre war es gang und gäbe, zu fragen, wie das System zu verändern und was an seine Stelle zu setzen sei. Das Spektrum möglicher Antworten war so breit wie die aus heutiger Sicht in zahllose Parteien, Zellen, Initiativen zersplitterte bundesdeutsche (europäische) Linke.
Vielleicht muss man daran erinnern, dass es sie einmal gab, die Linke - wie sehr auch immer ihr theoretischer und praktischer Horizont, ihr Benennungsvermögen, ihre Bündnisfähigkeit zeittypischen, im Rückblick oft grotesken Beschränkungen unterlagen. Schuldzuschreibungen sind in diesem Zusammenhang genauso fehl am Platz wie Aufrechnungen (obwohl es mich natürlich in den Fingern juckt zu erzählen, welche Karrieren mir bekannte Ex-Maoisten inzwischen gemacht haben), und Lernfähigkeit ist nicht die schlechteste menschliche Eigenschaft. Aber was gelernt und wozu?
Jetzt, in einem historischen Augenblick, in dem eine Systemalternative tatsächlich zur Diskussion stehen müsste, nachdem die neoliberale Rechte drei Jahrzehnte Zeit hatte, willfährig das anzurichten, was als Wirtschaftskrise zu bezeichnen sich in den kommenden Monaten als abgeschmackter Euphemismus erweisen wird, scheinen ausnahmslos alle nur wies Kaninchen auf die Schlange starren zu können.
Selbstverständlich hängt es kaum vom Personal ab, welche Grenzen der Kapitalismus wohin verschiebt, welche Codes er verflüssigt und welche Handlungsregime er installiert. Vorausgesetzt, dass die Mehrheit ihn und seine politische Ökonomie frag- und klaglos hinnimmt wie ein Naturgesetz. Folglich sich dem von ihm lancierten Zwang zu maximaler Rendite unterwirft, als handele es sich um die einzig mögliche Form von Vergesellschaftung unter den Bedingungen avanciertester Technik.
Der Gedanke, dass es anders zu machen sei, dass man sich bei der Einrichtung der Produktion am Bedarf und nicht am Profit zu orientieren habe, dass es nicht um die Verwertung von Kapital, sondern um ein gutes Leben für alle zu gehen habe, ist - jenseits nicht zu vermeidender Überspanntheiten - in den Jahren meines Studienbeginns, 1975, Konsens gewesen. Ein Konsens, der die Jugendorganisationen der sozialliberalen Koalition ebenso einschloss wie die kurzlebigste Spontigruppe, sich selbst im medialen Mainstream ohne Mühe wiederfinden ließ, um erst gar nicht von linksoppositionellen Gewerkschaftlern, die etwa in Betriebsrat von Daimler saßen, oder von den ganzen "roten" Fakultäten anzufangen. Diesen Konsens als hegemonial zu bezeichnen, wäre dennoch verkürzt. Gleichwohl existierte ein Arsenal von Begriffen, auf das jede/r zugreifen konnte: praktisch-politisch oder wissenschaftlich, aus Gründen der Analyse oder rein polemisch, ausdifferenziert oder als Totschlaginstrument, im aufblühenden feministischen Diskurs so gut wie in Fernsehdiskussionen (auch sie gab es einmal), in Privatgesprächen wie in Kritiken oder Examensarbeiten. Jenes Vokabular war Verständigungsmittel bis an den Punkt der Redundanz und Tautologie, bis hin zum notwendigen Moment der Verweigerung: Klasse, Klassenkampf, Ausbeutung, Bourgeoisie, Proletariat, Entfremdung, Unterdrückung, Macht, Herrschaftsverhältnisse - als gängige Münzen im Austausch von Positionen, die man nicht immer einem Kompromiss zuzuführen gedachte, sondern häufig (zu Recht) als widerstreitende verstand. Die Interessen des Unternehmers sind nicht die des Arbeiters, die von Herrn Ackermann nicht meine, und schon mal gar nicht unter der soziale Widersprüche einkassierenden Sachzwang-Flagge eines Standorts, der von "uns allen" unterschiedslos zu sichern wäre gegen internationale Konkurrenz.
Voraussetzung dieses linken Redens (dieses linken Konsenses) war eine breit akzeptierte Meta-Erzählung von und über Gesellschaft, deren Fokussierung auf den Gegensatz (Arbeiter versus Besitzende) und deren ontologische Festschreibungen (so und so hat der und die zu sein, insbesondere die Arbeiterklasse) irgendwann jedoch an ihre Grenzen stieß. Bestimmte Phänomene des Sozialen entglitten ihr einfach. Diese Borniertheit führte dann von Stuart Hall bis zu Michel Foucault zu jenen Analysemodellen, welche die Wirklichkeiten durchleuchteten, ohne sie gewaltsam einer absoluten Referenz (der Krake des Systems) subsumieren zu müssen.
Das allerdings war eine Befreiung des Denkens, die ich zumindest wie eine Epiphanie erlebte. Zwölf ununterbrochen mit der Lektüre des ersten Bandes von Sexualität und Wahrheit verbrachte rauschhafte Stunden, die mir ein für alle Mal klarmachten, dass es "die Macht", die zentral anordnet und ausschließlich repressiv ist, nicht gibt. Und es eine naive Unterschätzung wäre, Herrschaft allein am Verbot festzumachen und nicht daran, wie ihre Instanzen in einem subtilen Spiel von Übertragungen, an dem jede/r beteiligt ist, in gleichem Maß ermuntern, hervorbringen und zu scheinbar freiwilligen Geständnissen anstiften, anstatt bloß den Knüppel zu schwingen.
In den folgenden Jahren zerfiel die Meta-Erzählung (wie mit ihr die an den Orthodoxien der Arbeiterbewegung geschulte Linke) in diverse kleinere, partikulare Erzählungen, die nicht mehr um Deutungshoheit konkurrierten. Zugleich erlebten wir auf gesellschaftlicher Ebene den Übergang zu den flexibilisierten Strukturen des Postfordismus, einer zyklisch nur noch von Spekulationsblasen angetriebenen Realwirtschaft. Ihren weltweiten Kollaps kann man nun allerorten betrachten wie ein Stück, für das einem das Textbuch fehlt und jede Idee, wie man in seinen Verlauf eingreifen könnte und vor allem wie es zu enden hätte. Mit einer Sanierung der Bankrotteure auf Kosten der Allgemeinheit oder mit einer sozioökonomischen Ordnung, die eine andere als die bisherige kapitalistische wäre?
So schnell und unbedacht man in den Siebzigerjahren das Wort Revolution herausposaunte und unablässig die Machtfrage stellte, um das Kapitalverhältnis subito abzuschaffen, so scheint heute, da die Dinge sich real zuspitzen, kein Begriff mehr davon vorhanden zu sein. Es fehlt eine Vorstellung, die weiter reichen würde als hysterische De- oder Inflationsangst, das Geschimpfe auf Managergehälter, die Mantras von Konjunkturbelebungen auf diese oder die entgegengesetzte Art. Als könnten Gesellschaften dümmer werden, als könnten sie von einer Generation zur nächsten komplett vergessen, was sie bereits einmal gewusst haben.
Dabei ist es so schwierig nicht, sich zu erinnern. An das Richtige wie das Falsche. Und sicher nicht ganz falsch war die Forderung, mit dem Kapitalismus müsse endlich Schluss sein, und zwar als gesellschaftlicher Konsens. Eine solche Übereinkunft zu einem linken, einer nicht-regressiven zu machen, ist eine Aufgabe, die man schon aus Selbstschutz in Angriff nehmen muss. Alles sonst jagt mir nämlich zum ersten Mal wirklich Angst ein.
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