Kolumne Parallelgesellschaft: Europa als Angstraum und Angsttraum
Das Wörtchen "europäisch" ist nicht überall mit positiven Gefühlen aufgeladen. Es hat bei manchen anstößigen Gehalt
M ein Bekannter Gero erinnert sich noch gut an die Zeit, da Europa noch kein Schengenraum war. Mit den Eltern nach Holland auf den Campingplatz, mit Freunden per Interrail zwölf Länder in vier Wochen auf der Schiene - "das war eine ewige Passkontrolle, übel, und andererseits war es völlig normal, vor Grenzern Angst zu haben". Das eigene Land zu verlassen, hieß, in ein fremdes Territorium zu gehen; Grenzkontrollen bestärktes dieses Gefühl, den Platz des eigenen Stammes hinter sich zu lassen, stark.
Jan Feddersen ist taz.mag und tazzwei-Redakteur.
Das ist nun, Gero erzählt es in aufgeblühten Worten, vorbei. Ob man noch in Deutschland ist oder schon in Dänemark, den Niederlanden oder der Schweiz, ist oft ungewiss - manchmal übersieht man die Grenze, die nur noch ähnliche Bedeutung zu haben scheint wie die gelben Schilder, welche das Erreichen eines neuen Landkreises anzeigen: Landkreis Steinburg oder Nordfriesland? Überall gleich flach. Und Europa der Schengenfreizügigkeit? Alles eins?
Aber dann wird Gero in seiner Rede etwas fahrig, so, als irritiere ihn die Begebenheit, von der er uns berichtet, noch immer. Neulich, sagt er, sei er mit seinem litauischen Freund in Neukölln spazierengegangen; kurz vor dem eigenen Hauseingang kamen sie an einer polnischserbischbulgarischenweißrussischen Geldspielhölle vorbei. Auf dem Trottoir saßen einige Männer - nur Männer! -, derb, breitbeinig, recht eigentlich Wertungsrichter des Straßengeschehens, und musterten die beiden, die sich durch ihre sich berührenden Finger für den präzisen Blick als Sorte Mann zu erkennen gaben, welche nicht nur Kumpels sind. Gero wird hastig: Er habe das Gemurmel gar nicht verstehen können, es klang abfällig, ausgesondert mit absichtsvoll giftig-abfallenden Mundwinkeln, aber sein Freund, als Litauer mehrerer osteuropäischer Sprachen mächtig, sagte, die hätten sie "Europäer" geheißen.
Und das bedeutet was? Sind wir nicht meist in Neukölln Europäer? Nein, falsch, ganz falsch. Das sei in Osteuropa die Chiffre für alles, was verderbt sei, Schwules beispielsweise, für die warme Brüderbrut, dass sie sich zeigen, nicht verstecken, nicht einmal vor echten Angstdjangos wie vor dieser Kneipe. Halb grölende Verachtung für etwas, das sogar per Gesetzesrang zu diskriminieren verboten sei - und das es nur in den exwestlichen Ländern des Kontinents gebe.
Europäisch also. Das ist also nicht allein die Zauberformel von Freiheit und Grenzenlosigkeit, sondern offenkundig das zum Wort geronnene Symbol des Heimsuchenden, dass da ein politisches Konstrukt etwas erlaubt, das woanders getreten, geschlagen und mindestens missachtet wird. Die magische Chiffre, gegen die Kaczynskis in Polen so populär anwettern.
Geros Freund gab weitere Nachhilfe. Übersetzte ihm Publikumsstimmen aus osteuropäischen Boulevardzeitungen, also Medien, die auf die moderne Korrektheit im Umgang keine Rücksicht nehmen dürfen und müssen. In Polen wie in Lettland, in Russland so wie in Bulgarien: Europa ist die materielle Verheißung, der Brüsseler Trog, an dem viele Platz haben sollen, aber, leider, leider, auch die Sünde, das Unnatürliche, das Verbot, das lebensweltlich Andere einfach so in die Tonne zu treten.
"Europäisch" - das klingt natürlich nicht so fies wie andere Worte, etwa "Hure Babylon" oder "Sodom & Gomorrha", aber gemeint ist es wie "gottlos" und "Was die sich wohl einbilden".
Gero, dem sich nachbarschaftlich - denn viele der Kneipenkerle wohnen ja wie er in Neukölln - nun ein neues ideelles Universum öffnete, fuhr leicht verdrossen fort: "Na ja, dann müssen die Europa eben ertragen. Wenn sie Geld wollen und Zukunft, dann gehts nicht mehr so einfach zu leben wie früher auf der Kolchose oder unterm katholischen Heuchelschirm."
Freund Gero, eine milde Seele von Mann, eher stämmig von Statur, aber fein im Gemüt, lächelte ein wenig verschmitzt und fuhr fort: "Ich bin ja nicht schadenfroh, oder nicht immer, jedenfalls ist mir doch egal, wie die ihren Heterokult leben. Ist doch aber schön, dass sie das alles aushalten müssen."
Was genau? "Supereuropa."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren