Kolumne Parallelgesellschaft: Ich will doch nur ein Visum

Wer sich auf russischem Hoheitsgebiet befindet, muss mit vielem rechnen: Vor allem mit unfreundlichen Menschen.

Allein diese Gesichter vor dem russischen Konsulat in Berlins Mitte. Gucken die fünfzig Menschen ängstlich, weil allein das Gebäude, das sich zur Prachtstraße Unter den Linden wie ein prunkvolles Monsterschloss ausnimmt, auf der Rückseite so kalt wirkt?

Ist es Zufall, dass genau gegenüber an der Behrenstraße ein Plattenbau steht, der irgendwie auch in einer Bukarester Vorstadt oder eben im früheren Ostberlin stehen könnte?

Ich jedenfalls will ein Visum für einen achttägigen Trip nach Moskau - kann doch nicht so schwer sein, in die, so Google, "angesagteste Stadt der Welt" zu gelangen. Am Eingang eine plötzliche Eingeschüchtertheit bei mir. Darf ich? Sollte ich? Müsste ich? Die Umgangsformen der Konsularbeamten an der schweren Eingangstür scheinen noch aus ganz alten Zeiten zu stammen. Nach oben gehen! Fragen oben! Formulare!

Aber welch eine schöne Überraschung, im ersten Stock von einem Sicherheitsmann eine Nummer zu bekommen, mit der man sich an Schalter zwei melden kann. Ein schlechtes Gewissen stellt sich ein, mit dieser Nummer überspringe ich locker fünf Dutzend Wartende, alle mit erschöpften Gesichtern. Ich fülle die Formulare aus, habe auch noch daran gedacht, dass man eine Krankenversicherung vorzeigen muss, die auch in Russland gilt.

Erschütternd dieser Gleichmut, mit dem alle ausharren, eine professionelle Behandlung wie ein Schicksal hinnehmen und eine böse Missachtung als ein ebensolches. Niemand meckert, wohl weil Mosern sofort als Renitenz gelesen würde - womöglich mit einer Strafe nicht unter siebenstündiger Warterei geahndet.

Ich bin dran.

Warum nur, verdammt, habe ich Angst, als der knuffige Mann hinter dem Schalter sich meiner Unterlagen annimmt? Weshalb diese Furcht vor einer unbegründeten Ablehnung meiner Reise nach Moskau? Woher die plötzlichen Gefühle von Nichtzugehörigkeit?

Der Schalterbeamte wünscht keinen guten Tag, schaut nicht auf, sagt nur kläffend: Nicht vollständig, wirft meinen Kram mittelwütend auf seine Plastikunterlage, füllt fehlende Angaben selbst aus, und ich fühle mich ausgeliefert. Eine Frau bietet mir Apfelschnitze aus einer Tupperware-Dose an, das erleichtere die Ungewissheit. Der Beamte fordert mich durch die fette Scheibe auf, an der Kasse 35 Euro zu bezahlen. Dort wieder eine Schlange. Und abermals die Fantasie eines anstürmenden Sortierkommandos, das alle Antragsteller zusammenschreit und für pure Erniedrigung sorgt.

Da stellen sich einem die Fragen: Warum hält niemand das Ausstellen eines Visums für einen Service, bei dem die Visasuchenden Kunden mit Anspruch auf Freundlichkeit sind, schließlich bezahlen sie ja auch den Grenzübertritt? Hat der Kunde überhaupt Rechte. Und, gruselig, gilt meine EC-Karte noch?

Aber ja, alles klappt. Zum Schalterbeamten von mir ein devotes Bekenntnis der Entschuldigung, falls man ihm Unbill bereitet habe. Ich hasse mich dafür.

Der Beamte sagt, nächstes Mal brauche ich nicht wieder zu kommen. Er nimmt das Angebot an, sich als der Stärkere zu fühlen - und zeigt es. Der Mann ist aus einer Welt von gestern. Lang lebe ein Russland der Moderne!

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Einst: Postbote, Möbelverkäufer, Versicherungskartensortierer, Verlagskaufmann in spe, Zeitungsausträger, Autor und Säzzer verschiedener linker Medien, etwa "Arbeiterkampf" und "Moderne Zeiten", Volo bei der taz in Hamburg - seit 1996 in Berlin bei der taz, zunächst in der Meinungsredaktion, dann im Inlandsressort, schließlich Entwicklung und Aufbau des Wochenendmagazin taz mag von 1997 bis 2009. Seither Kurator des taz lab, des taz-Kongresses in Berlin,und des taz Talks, sonst mit Hingabe Autor und Interview besonders für die taz am Wochenende. Interessen: Vergangenheitspolitik seit 1945, Popularkulturen aller Arten, besonders des Eurovision Song Contest, politische Analyse zu LGBTI*-Fragen sowie zu Fragen der Mittelschichtskritik. RB Leipzig-Fan, aktuell auch noch Bayer-Leverkusen-affin. Und er ist seit 2011 mit dem in Hamburg lebenden Historiker Rainer Nicolaysen in einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft, seit 2018 mit ihm verheiratet. Lebensmotto: Da geht noch was!

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