Kolumne Ostwärts Immer: Leben im Hier und Jetzt
Der Vollrausch verhindert den Ausflug in die Vergangeheit. Das passiert schnell: Ein Nullfünfer-Bier kostet 1,25 Euro.
M atthias Stein sieht nicht aus wie ein Diplomat. Dennoch gehört er zum Personal einer Botschaft, der deutschen „Fanbotschaft“. Sie zieht während der EM durch die Spielorte der DFB-Elf: Lemberg, Charkow, am Freitag Danzig. Stein arbeitet normalerweise im Fanprojekt des FC Carl Zeiss Jena.
Als Botschafter muss er vor allem logistische Probleme der Fans lösen. Er ist Ombuds- und Kummerkastenmann in einem. In Charkow haben die lokalen Ausrichter etliche Fans abgezockt. Den Zeltplatz, den man eröffnen wollte, gab es gar nicht. Das Geld, das im Vorfeld kassiert wurde, war weg. Stein vermittelte Ersatz.
Er verteilt das EM-Fanzine Helmut und eine Broschüre, die sich „Denkanstoss!“ nennt. Es werden Gedenkstätten in den EM-Spielorten vorgestellt, herausgegeben ist die Schrift von der DFB-Kulturstiftung Theo Zwanziger, dem Interkulturellen Rat in Deutschland und der Koordinierungsstelle für Fanprojekte (KOS). DFB-Präsident Wolfgang Niersbach hat ein Grußwort verfasst. Man müsse sich an die „unfassbaren Verbrechen“ zwischen 1939 und 1945 erinnern, schreibt er.
ist Sport-Redakteur der taz und während der EM in Polen unterwegs sowie bei den Spielen der deutschen Mannschaft dabei.
In Charkow etwa lebten vor dem Zweiten Weltkrieg 130.000 Juden. Viele konnten fliehen, als die Wehrmacht im Oktober 1941 anrückte, aber das Sonderkommando 4a, eine Einsatzgruppe der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes unter der Führung von Paul Blobel, brachte hunderte Juden in sogenannten Gaswagen um.
Am 14. Dezember 1941 wurden 15.000 Juden in eine Traktorenfabrik getrieben. Die meisten sollten in der Drobitzer Mulde (Drobizkij Jar) ihr Leben lassen. Reisende können heute eine „Wand der Trauer“ am Ort des damaligen Ghettos besichtigen und das Denkmal von Drobitzkij Jar.
Das machen die wenigsten Fans, weil sie schon froh sind, wenn sie ohne größere Probleme zur Fanzone und zum Stadion kommen. Thomas Hübner ist zweimal mit dem Bus von Frankfurt am Main nach Lemberg gefahren und zurück, pro Strecke war er 22 Stunden unterwegs. Aber Hübner ist wie aufgedreht. Die Zeitungen hätten viel Mist geschrieben, sagt er.
Es sei auch nicht so teuer und toll organisiert das Ganze. Abzocke? „Nee, das Nullfünfer-Bier kostet 1,25 Euro.“ Da kann man zuschlagen, was viele deutsche Fans auch tun. Sie sind schon nachmittags schwer angeschlagen. An Ausflüge in die Vergangenheit ist nicht zu denken. Sie skandieren: „Sieg!“, „Hurra, Hurra, die Deutschen sind da!“ Sie leben nur im Hier und Jetzt, auf dem Rummelplatz des Fußballs.
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