Kolumne Ökosex: Holländische Vernunft, deutsche Hysterie
Warum ich als deutscher Atomkraftgegner erstaunt bin und als niederländischer verzweifle.
I n den letzten 14 Jahren meines Lebens im Königreich habe ich die Bundesrepublik nicht wirklich vermisst. Ich hatte mir immer ein paar schräge Vergleiche zurechtgelegt, um zu zeigen, dass NL dufte ist. Die Biergläser sind ein bisschen klein, aber dafür ist Niederländisch die schönere Sprache. Zugegeben, dass so viele Leute diesen blonden Verfassungsfeind gewählt haben, ist nicht schön. Aber dafür fahren hier sogar Autofetischisten begeistert Fahrrad und die Radwege sind professioneller.
Früher hätte ich bei der taz-Gemeinde natürlich mit unseren tollen Koffieshops angegeben, das geht aber nicht mehr. Ausländer dürfen bei uns in Maastricht bald nicht mehr kiffen, nur noch wir Eingeborenen. Das ist nicht wirklich fair, hat mich aber immer noch nicht stutzig gemacht. Mein Credo war: Wenn da der richtige, populistische Politiker kommt, dann wäre ruckizucki auch so eine 15-Prozent-Partei mit Islamhass und allem Pipapo im Bundestag. Sie merken, ich wollte also lange Zeit nicht zugeben, dass die deutsche Gesellschaft vielleicht doch irgendwie lockerer und aufgeklärter sein könnte.
Heute habe ich das Gefühl meine beiden Heimaten, sie driften heftig auseinander. Sind die Leute hier in meiner Provinz Limburg mit der Regierung unzufrieden sind, wählen sie einen aufgeblasenen Islamfeind. Sind die Wähler in BaWü sauer, wählen sie eine Multikultipartei. Ein kleiner Unterschied.
MARTIN UNFRIED ist Autor der taz.
Auch in der Atomfrage passt nichts zusammen. Als deutscher Atomkraftgegner reibe ich mir vor Zustimmung die Augen. In der atomfreundlichen FAZ lese ich, wie Frank Schirrmacher ganz in Ökosex-Manier die zehn größten Lügen der Befürworter filetiert. Schlage ich aber meine niederländischen Zeitungen auf, lese ich jeden Tag genau diese faulen Ausreden der Atomfreunde, als wäre nichts passiert.
Da sind in NL immer noch die Experten der Branche auf dem Sender, denen in Deutschland niemand mehr glaubt und niemand mehr zuhört. Und diese Meinungsführer in NL meinen eben, wir sollten den Ball flach halten: Es gäbe nun mal keine Tsunamis an der Nordseeküste. Dafür stünde in Vlissingen das sicherste Kraftwerk der Welt.
Apropos Abschalten? Die niederländische Regierung hatte in ihrem Koalitionsvertrag aufgeschrieben, sie wolle unbedingt dort in Zeeland noch ein neues Atomkraftwerk bauen. Und jetzt nach Fukushima hat die Regierung als Erstes verkündet, den Bau auf keinen Fall in Frage zu stellen. Irgendwie regt sich in der Gesellschaft darüber aber niemand auf. Keine Demos, nirgends. Dafür lästert Regierungschef Rutte über Angela Merkel: nicht nachvollziehbar, das Abschalten. Die Presse amüsiert sich über deutsche Hysterie und lobt die holländische Nüchternheit. Hier höhere Rationalität, dort nervöse Emotionalität. Und mit diesem alten Bauerntrick kommen die durch.
Da hilft nur eins: Millionen Nordrhein-Westfalen fahren dieses Jahr ausnahmsweise mal nicht nach Zeeland an ihren Strand. Das wäre ein toller, kräftiger Atomboykott. In Den Haag werden sie nämlich erst beim Geld richtig emotional. Vielleicht ist ihnen ja der Tourismus mehr wert als ein kleines AKW.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Rücktrittsforderungen gegen Lindner
Der FDP-Chef wünscht sich Disruption