Kolumne Nüchtern: Immer diese Nichttrinker
Der Nüchterne, nicht der Trinker fällt auf in der Gesellschaft. Alkoholismus gehört so selbstverständlich zum Alltag, dass er kaum wahrgenommen wird.
W as mich immer wieder irritiert, seit ich nicht mehr trinke, sind die teils recht brachialen Vorurteile gegen nüchtern lebende Menschen. Vorurteile, die Abhängigkeit betreffen, aber interessanterweise nicht an die Legionen aktiver Trinker adressiert werden, die die Bars, Büros und Bungalows dieses Landes bevölkern, sondern an die Nichttrinker.
Meistens handelt es sich dabei um völlig fehlgeleitete Projektionen der Intoxikation: dass Abhängige ewig auf Entzug leben zum Beispiel, dass sie Tag für Tag an nichts anderes denken als das Trinken, dass sie so etwas wie tickende Zeitbomben sind. Oder, ähnlich deprimierend, um nur schwer verdauliche Infantilisierungen: Man sei „trocken“ oder „hänge nicht mehr an der Flasche“.
Medial schlägt sich diese Haltung immer wieder in dramatischen Fotos von halb leeren Wodkaflaschen und anderen hochprozentigen Finessen nieder, die scheinbar das Leben des Nüchternen bebildern sollen, aber offensichtlich das genaue Gegenteil erreichen.
Der nüchterne Abhängige ist natürlich auffälliger als der Trinker, nicht zuletzt weil die meisten Menschen Alkoholismus im Regelfall nicht erkennen. Das Trinken gehört so selbstverständlich zu unserem Alltag, dass es gerade deshalb nicht gesehen wird.
Durch sein Nichttrinken scheint der Nüchterne diesen blinden Fleck sichtbar zu machen. Er verkörpert eine Krankheit, von der viele intuitiv glauben, dass sie keine Krankheit ist, und für die sich viele schämen, eine Krankheit, die oft versteckt wird und geheim gehalten werden soll.
Offene Ressentiments
In „Krankheit als Metapher“ setzte sich Susan Sontag 1978 mit den Vorurteilen auseinander, mit denen sie während ihrer ersten Krebserkrankung immer wieder konfrontiert wurde. Es waren Variationen von Vorurteilen, wie sie ein paar Jahrzehnte zuvor auch der Tuberkulose entgegengebracht wurden. Sie bestanden vor allem in der weit verbreiteten Annahme, dass die Erkrankung mentale und psychologische Ursachen hätte und durch Willensstärke geheilt werden könnte. Solche Theorien, schreibt Sontag, seien immer ein Indikator dafür, wie wenig die tatsächlichen physiologischen Ursachen einer Krankheit verstanden würden.
Diese Beobachtung lässt sich auch beim gegenwärtigen Verständnis von Abhängigkeit machen. Trotz der gewaltigen neurobiologischen Fortschritte der vergangenen Jahre, ist sie immer noch zu wenig erforscht. Immer noch wird Alkoholkranken ein Selbstverschulden unterstellt, immer noch denken viele, dass es mit einem bisschen Disziplin doch nicht so schwer sein kann, „normal“ zu trinken, was auch immer das bedeuten soll.
Vielen Menschen ist es natürlich völlig egal, wie viel andere Leute trinken. Sie begegnen dem Nüchternen meist mit einer Art soziologischem Interesse. Ach, so etwas gibt es auch?
Andere wiederum wissen einfach zu wenig über die Krankheit, hängen überkommenen Klischees an, den Tabus vergangener Jahrzehnte. Aber es ist erstaunlich, wie häufig man dann doch auf Menschen trifft, die auf den Nichttrinkenden herabschauen und ihm mit offenen Ressentiments begegnen. Ich musste mir etwa schon oft anhören, dass ich das Trinken verbieten wolle und einfach nicht verstünde, wie man Spaß hat.
Solchen Menschen würde ich dann immer gern sagen, dass ich Sie locker unter den Tisch trinken und in kürzester Zeit einen sehr viel glamouröseren Abend organisieren könnte, als sie ihn gerade haben. Aber das mache ich nie. Ich kenne diesen Hunger, diese Dringlichkeit, die durch diese Abwehr spricht. Früher hätte ich mit jemandem wie mir vielleicht ganz ähnlich geredet.
Darüber hinaus würde es sich wohl auch nicht sehr gesund anfühlen. Mein Leben ist so viel schöner, glücklicher und erfüllter als damals, als ich noch trank. Und im Grunde ist es mir irgendwie auch egal, was andere Menschen über mich denken.
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