Kolumne Nachbarn: Eines Nachts
Dieser Durst. Diese Blicke. Diese Angst. Und dann auch noch die Stimme, die versagt! Ich muss schnell die Polizei rufen. Doch wo ist mein Telefon?
D urst! Großer Durst. Trockener Hals, vertrockneter Rachen und kein Wasser auf der ganzen Strecke. Meine Beine trugen mich nicht mehr; mein Körper war ausgetrocknet und erschöpft. Ich wusste noch, dass es am Ende der Straße einen Brunnen gab, der heute unter den Trümmern der umliegenden Häuser begraben lag.
Ich robbte auf dem Bauch, wie der Hund meiner Nachbarn, der eine Kugel ins Bein abbekam und nie behandelt wurde. Erst durch einen Gnadenschuss fand sein Schmerz ein Ende. Ich schleppte mich weiter bis zur Stelle, wo man früher den Brunnen sah; doch dort fand ich weder Wasser noch jemanden, der mir einen Gnadenschuss geben konnte.
Neben dem Brunnen stand ein Kind und betrachtete mit seinem noch verbliebenen Auge die Umgebung. Unweit von ihm standen ein Dutzend Kinder herum, von denen kaum eines noch beide Arme oder Beine besaß. Ich sah den Kindern zu, wie sie aus dem Schlamm Wasser pressten, um ihren Durst zu stillen. Da musste ich plötzlich schluchzen, und die Kinder wurden auf mich aufmerksam. Sie begannen miteinander zu tuscheln und waren im Nu im Schlamm verschwunden.
Meine Stimme war verschwunden, ich nahm etwas Schlamm in die Hand und versuchte, daraus Wasser zu gewinnen, um ebenfalls meinen Durst zu stillen. Als ich meine Faust öffnete, sah ich ein Auge in meiner Hand, das mich streng anschaute. Ich erschrak, als ich meine Augen öffnete und feststellte, dass ich vor dem Einschlafen das Licht in meinem Zimmer nicht gelöscht und vergessen hatte, Wasser neben mein Bett zu stellen.
So ein Alptraum! Ich stand auf, ging in die Küche, drehte den Wasserhahn auf – doch heraus kam nur Luft. Ich dachte, ich träumte noch. Ich war doch in Deutschland, hier floss das Wasser immer, nicht wie in Syrien. Vergeblich drehte ich am Wasserhahn herum.
Welch lächerlicher Gedanke!
Von draußen hörte ich Stimmen. Nach kurzem Zögern öffnete ich das Fenster und schaute hinaus. Ich sah einen Panzer und viele Soldaten, die eine mir unbekannte Sprache sprachen. Die Soldaten schauten sich nervös um, einer von ihnen erblickte mich am Fenster. Angst überkam mich, ich schloss rasch das Fenster und stellte leere Blumentöpfe davor – in der Hoffnung, die Soldaten dächten dann, hier wohne keiner. Welch lächerlicher Gedanke!
Kurz darauf vernahm ich Schritte im Treppenhaus. Ich dachte: Das sind die Soldaten, sie holen mich gleich. Hätte ich bloß das Fenster nicht geöffnet. Ich ging im Zimmer auf und ab und murmelte vor mich hin: Ich bin doch in Berlin und nicht in Damaskus. Hier gibt es doch keinen Krieg, ich muss schnell die Polizei rufen. Doch wo ist mein Telefon? Wo habe ich es bloß hingelegt?
Ich beschloss, auf den Balkon zu gehen und um Hilfe zu rufen. Gute Idee. Doch auf dem Balkon versagte mir die Stimme. Meine Stimmbänder war so trocken, dass ich keine Silbe herausbrachte! Ich ging in die Wohnung zurück, löschte alle Lichter, ging zur Tür, hörte die Schritte derer, die vielleicht Soldaten waren, näher kommen und vernahm die fremde Sprache noch deutlicher als zuvor.
Ich krabbelte ins Schlafzimmer zurück und dachte, ich sollte mich tot stellen, wenn die Soldaten gleich die Wohnungstür eintreten und in mein Schlafzimmer eindringen würden. So dächten sie, ich sei tot, und würden mir nichts antun. Vielleicht würden sie sich ein anderes Opfer suchen. Mir gefiel die Idee, ich legte mich ins Bett und machte die Augen zu.
Auf einmal wurde es still, ich schlug die Augen auf, das Zimmer war von Sonnenlicht durchflutet, das Telefon klingelte, das noch volle Wasserglas stand neben dem Bett, es war schon nach zehn Uhr und ich würde zu spät zur Arbeit kommen.
Aus dem Arabischen von Mustafa Al-Slaiman
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