Kolumne Minority Report: Herr Auster, was sagt Ihre Schwester?

Ich habe gerade ein Buch geschrieben. Meine Eltern sind zwar keine Literaturkritiker. Und trotzdem wollen alle ihre Meinung wissen.

Paul Auster

Wenn der Auster über Inzest schreibt, ist doch klar, um wen es geht. Oder? Foto: dpa

Vor zwei Wochen ist mein erstes Buch erschienen und ich muss sagen: es läuft ganz okay. Woran ich das merke? Bei Amazon gibt es schon acht Bewertungen. Ich wurde bereits einmal auf der Straße erkannt, durfte ein Buch signieren. Und meine Mutter mochte das Buch ganz gern – bis auf das Ende. Sie vermutet, dass ich die Deadline nicht geschafft habe, und fordert eine Fortsetzung mit Happy End.

Der letzte Punkt ist besonders wichtig. Also, meine Mutter. Denn ich schätze, in zehn Gesprächen, die ich bisher über das Buch geführt habe, wurde ich in acht gefragt, wie ich von einer „sozial abgehängten“ und „bildungsfernen“ Protagonistin erzählen kann, wo ich selbst doch Germanistik studiert habe. Und in neun wurde ich gefragt, was meine Eltern zu dem Buch sagen. Ich hatte keine Antwort parat, weil Mama noch nicht ganz durch war, und Papa keine Zeit hat für so einen Qutasch.

Außerdem fühlte ich mich ein bisschen wie in so einem libanesischen Hotel, wo ich selbst als 30-Jährige beim Check-In den Namen meines Vaters nennen muss. Nur zum Verständnis: Meine Eltern sind keine Literaturkritiker. Und mein Buch ist weder Autobiografie noch Memoir. Es ist einfach ein Roman, völlig frei erfunden und konstruiert. Was ich aber sagen kann: Ich war schon in dem ein oder anderen türkischen Wohnzimmer, um Sonnenblumenkerne zu knacken.

Ich habe nichts gegen Auster

An dem Tag, an dem mein erstes Buch erschien, kam übrigens auch das Opus Magnum von Paul Auster raus, in der deutschen Übersetzung. Ich habe nichts gegen Paul Auster. Außer, dass ich in der Schule „Moon Palace“ auf Englisch lesen musste und kein Wort verstanden hatte damals und deshalb eine 4 bekam. Ein paar Jahre später im Griechenland-Urlaub stieß ich dann auf „Invisible“. Ich las den Roman freiwillig, und fand ihn großartig. Insofern würde ich es eine freundschaftliche Konkurrenz nennen, wie SPD und Grüne, oder AfD und die Linke.

Als mein Lektor letzte Woche aufgeregt anrief, um mir mitzuteilen, ich sei auf der Spiegel-Bestsellerliste, war mein erster Gedanke: Eine Bluse von Valentino. Der zweite war: Paul Auster. Ich googelte also die Liste, um nach meinem Namen zu suchen, allerdings stand er da gar nicht, weil die online veröffentlichte Liste nur bis Platz 20 geht, und ich irgendwo hinter der 50 lag. Schade, kein Screenshot für Mama, keine Valentino-Bluse. Was sah ich stattdessen? Platz 2: Paul Auster.

Die Badewanne

Es ist nicht so, dass ich ihm den Erfolg nicht gönne. Auster hat sein erstes Buch geschrieben, da war Mama erst 15. Aber ich würde mir doch innigst wünschen, dass man auch Auster fragt, wie seine Eltern zu „4 3 2 1“ stehen. Okay, sie sind schon tot, aber Mutter Queenie lebte bis 2002. Was hielt sie denn von „Mr. Vertigo“? Im Netz sind keine Antworten zu finden. Ich vermute: Paul Auster wurde nie danach gefragt.

Ich vermute ebenfalls: Keiner hat Auster gefragt, wie es ist, mit der eigenen Schwester zu schlafen. So wie J.K. Rowling nie gefragt wurde, woher sie weiß, dass es Hogwarts gibt. Möglicherweise aber ist das türkische Wohnzimmer ein Ort, der viel unvorstellbarer ist als eine schottische Zauberschule oder die New Yorker Inzest-Badewanne.

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ehem. Redakteurin im Ressort taz2/Medien. Autorin der Romane "Ellbogen" (Hanser, 2017) und "Dschinns" (Hanser, 2022). Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift "Delfi" und des Essaybands "Eure Heimat ist unser Albtraum" (Ullstein, 2019).

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