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Kolumne LaufenDie Stadt, der Müll und die Kärtchen

Kein Mensch liest die Müllbroschüre. Ich jedenfalls nicht - und muss mich deshalb auf meine Nachbarn verlassen.

Bild: privat

Dieter Baumann, 42, ist mehrfacher Olympiasieger in verschiedenen Laufdisziplinen, arbeitet als Motivationstrainer und Autor. Er träumt davon, ein "Lebensläufer" zu sein, für den der Weg immer wichtiger bleibt als das Ziel.

Zweimal im Jahr ist Sperrmüll in der Stadt. Doch bei diesem Ereignis ist Vorsicht geboten, denn nicht jedes Regalbrett oder ausrangierte Möbelstück ist Sperrmüll.

Dazu gibt es eine umfangreiche Broschüre, in der alles genau katalogisiert ist. Behandeltes Holz, Naturholz, Elektroschrott, Altmetalle. Nicht zu vergessen Altpapier, Grüngut, gelber Sack und natürlich die gute alte Restmülltonne. Dazu gibt die Broschüre auch Auskunft darüber, an welchem Tag welcher Müll abgeholt wird. Alternativ gibt es in dem kleinen Heftchen unterschiedlich gefärbte Kärtchen, die den Bürger berechtigen, nach Einsendung dieser Kärtchen den Müll an anderen Terminen abholen zu lassen (die berühmte Ausnahmeregelung). Damit die Zuordnung der unterschiedlichen Materialien zur richtigen Müllsorte auch tatsächlich stimmt, sollten sie entweder über hervorragende Kenntnisse über die Rohstoffe dieser Erde verfügen oder aber eine sehr gute Beobachtungsgabe im nachbarschaftlichen Umfeld besitzen.

Ich verlasse mich weitgehend auf die zweite Eigenschaft. Neulich entdeckte ich in meiner Nachbarschaft umtriebige Geschäftigkeit. Allerlei Bretter, Bettgestelle und alte Lampenschirme wurden auf den Gehweg gestellt. Ein untrügliches Zeichen: Sperrmüllzeit. Ähnlich verhält es sich mit all den anderen Müllsorten. Stehen die Restmülltonnen meiner Nachbarn auf der Straße, stelle ich meine einfach dazu. Stapelt einer sein Altpapier an die Hausmauer, trage ich ebenfalls die alten Zeitungen aus dem Keller. Natürlich gehe ich davon aus, dass meine Nachbarn im Gegensatz zu mir die kleine Müllbroschüre auch tatsächlich lesen. Nicht auszudenken, wenn sich ein Scherzbold beispielsweise einmal erlauben würde, die gelben Säcke zur falschen Zeit auf die Straße zu stellen. Was, schon wieder gelber Sack, würde ich denken und die fünf Säcke, die sich trotz Mülltrennung in unglaublichem Tempo angesammelt haben, dazustellen. Daraus würde eine nicht aufzuhaltende Kettenreaktion entstehen. Die ganze Straße würde ihre gelben Müllsäcke auch auf den Gehsteig stellen.

Diesmal also Sperrmüll. Voller Panik erblickte ich die Bretter meiner Nachbarn, die mich an unser altes Mobiliar im Keller erinnerten. Spät am Abend schleppte ich den ausrangierten Hausrat auf die Straße. Sehr früh am Morgen hörte ich das Müllauto und war froh, alles zur richtigen Zeit am richtigen Ort bereitgelegt zu haben. Als ich zwei Stunden später die Zeitung aus dem Briefkasten holte, stellte ich verwirrt fest, dass mein gesamter Müll immer noch an der Gartenmauer lehnte, der Müll meiner Nachbarn aber verschwunden war. Die kommen bestimmt wieder, dachte ich. Irgendwann muss das Müllauto schließlich geleert werden. Doch an diesem Tage wie auch in den kommenden Tagen kam kein Müllauto wieder. Nach eingehendem Studium der kleinen Müllbroschüre stellte ich fest, dass mein Sperrmüll laut Definition kein Sperrmüll war. Es half alles nichts, der Hausrat musste weg und so machte ich mich auf den Weg zum Recyclinghof.

In der Nacht allerdings hatte der Müll Zuwachs bekommen. Es standen mehr Bretter da als die, die ich aus dem Keller getragen hatte, und der alte Fernseher, der nun an meiner Gartenmauer lehnte, war mir ebenfalls neu. Einen ganzen Wagen voller Hausrat - meinen eigenen und noch viel mehr - brachte ich weg. Den Fernseher allerdings ließ ich auf der Gartenmauer zurück. Bestimmt möchte ihn sein Besitzer wiederhaben, dachte ich.

Drei Wochen stand er auf der Mauer, dann plötzlich war er über Nacht verschwunden. Es war dieselbe Nacht, als eine wilde Party in unserer Straße gefeierte wurde und Horden brüllender Studentinnen und Studenten die ganze Nacht auf und ab rasten. Die meisten hatten Mühe, sich in dunkler Nacht auf dem Nachhauseweg auf den Beinen zu halten. Doch mit ihnen verschwand der Fernseher. Zurück blieb ein Fahrrad. Ein sehr altes Fahrrad. Nun lehnt es seit zwei Wochen stumm vor meiner Tür und wartet auf den Besitzer oder auf die Metallschrottabholung. Blaues Kärtchen.

Fragen zum Fahrrad? kolumne@taz.de Morgen: Martin Unfried propagiert ÖKOSEX

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