Kolumne Jung und dumm: Wenn Weidermann weint
„Die Unglückseligen“: Literaturkritiker haben neuerdings auch Gefühle. Und Gedanken. Manchmal sogar zwei auf einmal.
A us mir im und aus Prinzip unerfindlichen Gründen wurde die vietnamesische Gaststätte, in der ich sonst so viel Zeit meines Lebens verbringe, von der südhessischen Kindermafia besetzt, deren Mitglieder darin nun schreiend in Gangränen pulen, stinkend ihre Weltsicht kundtun und die Bedienung terrorisieren, obwohl sie das Wort „Bambussprosse“ nicht mal fehlerfrei aussprechen können.
Wie gut, dass es noch andere hippe, bedeutungsvolle Essenssachen gibt in diesem Frankfurt. Zum Beispiel das Fischdöner-Boot am Mainufer, ja, wirklich, schmeckt super. Einzig die Gänseschar davor ist verstörend – sie sei sein „Zoo“, sagt der Wirt. Aber so eine Gans ist eben nun mal auch eine nicht zu unterschätzende Gefahrenquelle.
Sitzt man so brav auf der Kaimauer und plötzlich, zack, hack, ist der Rücken aufgeschlitzt. Der Kopf in den Magen gerammt – der Schnabel im Nabel. Der Körper unter Strom gesetzt (die neue Trenddroge: Überlandleitungen anfassen). Viele Gänse enthalten noch veraltete Dieselgeneratoren aus der Pommpomm-Reihe und stehen daher permanent unter Hochspannung. Wussten Sie das?
Bleiben an dieser Stelle noch einige Zeilen, um das erste „Literarische Quartett“ ohne Maxim Biller zu besprechen. Literaturkritik ist inzwischen ja nur noch das müde Schlagen einer Katze, die von einem Haufen Sadisten in einen Bienenstock gesperrt wurde, aber sich vorher schon umbringen wollte.
Trendy und lebensnah
Ganz anders das „Quartett“: Mit beeindruckender Hartnäckigkeit machen seine Teilnehmer im Vorfeld und während der Sendung Anspielungen auf Twitter und das Internet, was zeigt, dass sie trendy denken. Und auch sonst sind sie sehr lebensnah.
Volker Weidermann, der einen grauen Anzug und darunter ein schwarzes Shirt mit V-Ausschnitt trug, gab an, bei der Lektüre von Hanya Yanagiharas „Ein wenig Leben“ „unendlich viel geweint“ zu haben, „ständig und permanent“. Geradezu meditativ ist seine Fähigkeit, sich auf seine Gefühle einzulassen: „Ich misstraue meinen Tränen nicht, sondern ich bin auch ein Leser, der das Pathos unglaublich schätzt.“
Wo er Walsers Antisemitismus ungewohnt harsch mit den Worten „überflüssig“ und „befremdlich“ rügte, kam Billers Nachfolgerin Thea Dorn, die ihren Magister an der FU Berlin mit einer Arbeit über Selbsttäuschung ablegte, nicht umhin, das neue Werk des Großschriftstellers als „ziemlich hohe, großartige Dialektik“ zu loben.
Dorn, deren jüngster Roman den Titel „Die Unglückseligen“ trägt, heißt mit bürgerlichem Namen Christiane Scherer und gab sich als „eingefleischte Adornitin“ (T. D.) einst ihren Künstlernamen aus Dank an „Theo“ (T. D.) – aber vermutlich auch, um ihren unbequemen, im wahrsten Sinn dornigen Geist zu beweisen. Ich bin sicher, sie könnte sehr gut einmal eine Diskussion zwischen Herrn Walser und Herrn Adorno moderieren, vielleicht über die Pkw-Maut.
Um unseren Dank für sie, die von den Feuilletongewaltigen viel zu lange Unterschätzte und als affektiert Verschmähte, zum Ausdruck zu bringen, trägt der tazzwei-Kolumnist heute ihren Namen.
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