Kolumne Globetrotter: Fuck Saudade, vota Merkel
Unsere Autorin wundert sich darüber, dass der Präsident Portugals Tomatenwürfel schneidend hinter dem Bar-Tresen sitzt.
E s war nicht unbedingt Liebe auf den ersten Blick. Die Lissaboner Wohnung, in der ich diesen Januar der winterlichen Berliner Tristesse entkommen wollte, lag in einer enttäuschend dunklen Gasse. „Das ist das authentische Portugal!“, schrie mir die Vermieterin Maria bei der Schlüsselübergabe entgegen, um den grölenden, stark alkoholisierten Männerhaufen vor der kleinen Bar gegenüber zu übertönen.
Der Aufenthalt war allerdings auch nicht rein touristischer Natur: Statt unter drei Pullovern und grauer Wolkendecke konnte ich meine Schreibtischarbeit genauso gut bei offenen Fenstern und echtem Tageslicht verrichten. Ein paar Wochen neue Routine.
Das winzige Apartment im dritten Stock hatte, wenn auch sonst keine Fenster, immerhin einen fußbreiten Balkon, der morgens zwischen exakt 10.08 und 10.35 Uhr von direktem Sonnenlicht geküsst wurde. Aus der Nachbarschaft tönten rund um die Uhr Cabo-Love-Klänge durch die milde Luft; gegen Mittag kam noch der Geruchsmix von frisch gewaschener Wäsche und Grillhähnchen hinzu.
Die Rotisserie neben der Bar machte morgens als Erste auf: Hier sammelten sich die Männer geduldig wartend, bis dann ein wenig später die Bar ihr Rollgitter hochzog und das tägliche Lallen in allen Tonlagen bis in den späten Abend den Soundtrack der Straße lieferte.
Hauswein aus dem Pappkarton
Neugierig, warum sich alle ständig Zahlen zurufen, um dann in Gelächter auszubrechen, verbringe ich mehr Zeit am Balkon als vor dem Computer. Mitten auf der Straße stehen sie im Kreis und raten, wie viele Münzen wohl die jeweils anderen in ihrer geschlossenen Hand verstecken. Wenn ich das Haus verlasse, sage ich artig „Boa tarde“ oder „Boa noite“ in die feuchtfröhliche Runde. Freudig grüßen sie zurück.
Auf meinen täglichen Erkundungsausflügen entdecke ich selbst in der kleinen Straße immer wieder Neues: ein winziges Lebensmittelgeschäft, den Projektraum eines Künstlerkollektivs, einen Zigarettenkiosk mit blindem Verkäufer, ein Familienrestaurant im Keller. Und in der mit Reggae beschallten Pizzeria läuft es abends auch rund: Kleine Jungs aus der Nachbarschaft fordern die rastabelockte Kundschaft zum spontanen Straßenfußball heraus.
Am späten Abend der portugiesischen Präsidentschaftswahlen geselle ich mich dazu und trinke ein Glas Hauswein aus dem Pappkarton. Da die gesamte Stadt mit Wahlplakaten zugekleistert ist (viele übersprüht mit Stencils von Angela Merkels Gesicht: „Vota Merkel“, Wähle Merkel!), frage ich beim Bestellen neugierig, wer denn nun der Präsident sei. „Na ich!“, antwortet der Barman/Koch/DJ. „Und der da auch“, fügt er hinzu und zeigt auf den anderen hinter dem Tresen. „Nicht der Pizzeria, sondern vom Land“, versuche ich meine Frage zu präzisieren – Portugiesisch kann ich noch nicht so gut.
Der Kopräsident kneift kurz die Augen zusammen, öffnet einen Tab am Computer an der Wand, aus dem die Musik kommt, und googelt: „Presidente + Portugal“. Den Namen des Gewinners, Marcelo Rebelo de Sousa, googelt er dann auch. Mir zuliebe. Das Thema scheint hier niemanden zu beschäftigen.
„We Hate Tourism“-Tours
Meine Nachbarschaft geht generell so entspannt und besonnen miteinander um, dass man fast vergisst, wie schlecht es dem Land im Zuge der Finanzkrise eigentlich geht. Viele Häuser, ehemals prachtvoll, stehen im fortgeschritten maroden Zustand leer. Doch in den umliegenden Straßen gibt es einige Baustellen und an den nahen Docks hat sich seit meinem letzten Aufenthalt vor zwei Jahren auch einiges getan. Von einem Besuch bei „We Hate Tourism“-Tours, dessen Hauptquartier sich ebenfalls in meiner kleinen Straße befindet, erhoffe ich mir Aufschluss.
Das 2010 von „arbeitslosen Journalisten, Psychologen, Fotografen und Aufwieglern“ gegründete Projekt bietet Touren aus der Sicht waschechter Lissaboner an, die mit Humor die Heile-Welt-Fassaden ihrer Stadt zum Bröckeln bringen wollen. Seit etwa fünf Jahren boomt die Tourismusbranche; Investoren beginnen sich auch für entlegenere Viertel zu interessieren, klärt mich Marta auf.
Nach und nach wird aufgeräumt, auch weil Renovierungsarbeiten neuerdings stärker steuerlich begünstigt werden. Wer im Wert von über einer halben Million Euro Immobilien kauft, bekommt sogar ein fünfjähriges Visum Gratis obendrauf – ein Angebot, von dem vor allem Chinesen Gebrauch machen würden. In den letzten Monaten sei die Stadt zudem von Franzosen regelrecht überlaufen worden, die sich möglicherweise zu ihren üblichen Urlaubszielen (Marokko und Tunesien) nicht mehr hin trauen.
„Fuck Saudade“ verabschiedet mich beim Verlassen des Büros ein Plakat auf der Tür: Adieu Tristesse, könnte man poetisch übersetzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen