Kolumne Geschöpfe: Verschachtelte Mietverhältnisse
Wege aus der Marienkäferplage - und hinein in den alltäglichen Wahnsinn.
G estern klingelte es zur Unzeit, mehrfach, drängend. Seufzend klappte ich den Computer zu, legte die Kopfhörer beiseite und hastete willfährig zur Tür. Vor mir stand, einen Kopf größer als ich und offenbar stinksauer, meine eigentlich nette Nachbarin von gegenüber.
Arno Frank (36) ist taz-Redakteur. Er kann lesen und schreiben. In seiner Freizeit spielt er gerne Flipper, hört schlechte Musik, schaut sich gute Pornos an und erschlägt manchmal kleine Hunde.
Wir waren uns bisher nur selten begegnet, ganz informell, im Treppenhaus, und dabei wirkte die eigentlich nette Nachbarin stets wie ausgewechselt: Mal ignorierte sie jedes freundliche Grußwort meinerseits mit arktischer Kälte, mal überschüttete sie mich im Gegenzug mit wärmender Zuneigung. Worüber ich mich nur so lange wunderte, bis ich erfuhr, dass meine eigentlich nette Nachbarin tatsächlich ausgewechselt war, litt sie doch an einer bipolaren affektiven Störung, also an einer manisch-depressiven Erkrankung.
Schlimm.
Fast so schlimm wie die verschiedenen Stimmen, die regelmäßig durch das Treppenhaus drangen und in denen meine eigentlich nette Nachbarin mit ihren offenbar weit weniger netten Abspaltungen zu hadern pflegte: "Der Doktor hat ja gesagt, dass es so enden würde mit dir!" - "Du Sau!" - "Halts Maul!" - "Halts Maul, halts Maul, mehr fällt dir wohl nicht ein? Du Sau!"
Jetzt allerdings, das entnahm ich der pochenden Ader auf ihrer Stirn, kochte sie vor Wut. Auf mich: "So", zischte sie, knetete ihre Hände und holte noch einmal tief Luft: "Jetzt ist endgültig Schluss damit! Jetzt hören Sie damit auf!" - "Aber womit denn? Ich habe nur Musik gehört und …" - "Schalten Sie Ihre Mikros aus!" - "Meine was?" - "Die Mikrofone, die Sie in meiner Wohnung versteckt haben. Ich weiß, dass Sie mich abhören. Und ich werde das nicht länger dulden! Ich halte das nicht mehr aus!", rief sie und ging einen durchaus drohenden Schritt auf mich zu. "Oha", sagte ich noch und "weia", bevor ich ihr - gerade noch rechtzeitig - die Tür vor der Nase zuschlug. Meine Nachbarin litt also nicht nur an einer manisch-depressiven Erkrankung, nicht nur an einer ausgewachsenen Schizophrenie - sondern auch noch an lehrbuchmäßiger Paranoia. Verdammt viele Krankheiten für eine einzige arme Seele. Nun leuchtete mir auch ein, weshalb sie den lieben langen Tag irgendeinen überlauten Dudelfunk laufen ließ, der versteckten Mikrofone wegen.
Es ist schon ein seltsames Gefühl, wenn frische Zuneigung plötzlich in Verdrossenheit kippt - und dort dann langsam zu säuerlichem Missvergnügen verschimmelt. Was, wenn mir meine eigentlich nette Nachbarin morgen mit ihrem Zwilling-Küchenmesser auflauert? Der Mikrofone wegen? Wenn sie sich gar selbst etwas antut? Was tun?
Nachdenklich schlurfte ich zurück ins Wohnzimmer, wo wieder die Marienkäfer ausgeschwärmt waren und als träge Sprenkel an der Decke hingen.
Als ich vor ein paar Jahren den ersten Käfer in meiner Wohnung entdeckte, hatte ich mich noch gefreut wie eines der Kinder, über die die Brüder Grimm einst schrieben: "Das schöne, bunt punktierte Marienwürmchen setzen sie sich auf die Fingerspitzen und lassen es auf- und abkriechen, bis es fortfliegt". Harmonia axyridis allerdings flog nicht fort. Harmonia axyridis blieb stoisch auf meiner Fingerspitze hocken und glotzte gleichmütig zurück.
Es handelte sich, wie ich lernen musste, um mutierte Marienkäfer aus Asien. Ursprünglich importiert und auf flügellos gezüchtet, um mehr Blattläuse zu vertilgen als die Verwandtschaft aus Europa. Dann ausgebrochen, fliegen gelernt und kolonienweise in meinen Fensterkästen nistend, auf- und abkriechend, dabei allmählich meine Scheiben vollscheißend. Dort leben sie nun zu jeder Jahreszeit und, seitdem ich meine marienkäferverachtende Staubsaugerei satt hatte, ohne natürliche Feinde. Zwar finde ich ständig irgendwo zerquetschte oder plattgetretene Exemplare, aber sie werden ums Verrecken nicht weniger. Darwin wäre stolz auf diese Biester.
Seufzend fuhr ich den Computer wieder hoch und setzte die Kopfhörer auf. Musik, Musik, Musik. Morgen werde ich mal bei meiner eigentlich netten Nachbarin klingeln und sie bitten, doch das Radio leiser zu stellen.
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