Kolumne Gerüchte: Als Rollstuhlfee im Lkw nach Rumänien?
Zuckermilch saugen, Hamster umsorgen oder Rollstühle sammeln - verlässt ein Kind das Haus, ist jeder Trost erlaubt.
Barbara Dribbusch ist Redakteurin für Sozialpolitik im Inlandsressort der taz.
Als ich die Tube "Milchmädchen" in den Einkaufswagen gleiten ließ, wusste ich: das ist ein neuer Lebensabschnitt. Cremig und schwer gezuckert ist dieses Kondensmilchkonzentrat von Nestlé. Man kann die "Milchmädchen"-Sahne in den Tee drücken, aufs Brot schmieren oder es so machen wie mein Jugendfreund Winni. Der hatte mir gestanden, dass er sogar manchmal heimlich an der Tube sauge, "wenn ich am Ende bin". Jeder Mensch hat ein Recht auf Trost. Auch ich.
Aber ich fang noch mal von vorne an, beim eigentlichen Skandal. Ist es nicht Augenwischerei, dass allerorten über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie lamentiert, dass der Karriereknick der Mütter beklagt und der Stress der neuen Väter bejammert wird ? Diese Kinder-Dramatik: alles Pipikram. Verglichen mit dem Eigentlichen. Dem, was überall totgeschwiegen wird. Wozu der Politik nichts einfällt. Was man nicht mit Geld aufwiegen oder sonstwie entschädigen kann. Dabei sind sieben Millionen Menschen betroffen. Mindestens.
Sieben Millionen - das sind die Mütter und Väter jener Kinder, die heute zwischen 16 und 21 Jahre alt sind. Ein riesige Gruppe auf der Suche nach Trost. "Loslassen", sagt meine Bekannte Lisa, "du musst loslassen können." Lisa hat den Auszug ihres Sohnes gerade hinter sich. Am Tag danach hat sie das Kinderzimmer gestrichen. "Heulend", schildert sie, "aber du musst den Schmerz zulassen." So ganz nehme ich ihr die Heldinnennummer nicht ab. Sie ruft zweimal in der Woche bei Benjamin an.
"Es kann auch wunderschön sein", behauptet meine alte Bekannte G., "wir haben zum Beispiel angefangen, Salsa zu tanzen." G. geht mit ihrem Mann jetzt zweimal in der Woche zum Salsa, sie lernen über die Tanzerei "irre nette Leute" kennen, im Sommer machen sie eine Tanzreise nach Mallorca. Vorbei scheint die Zeit, als G. heulend auf dem Bett lag und sich abends nicht mal mehr ausziehen wollte. Ihre Tochter hatte sich gewünscht, auf ein Internat zu gehen. Und möchte dort bleiben bis zum Abitur. Und anschließend dringend nach Spanien umsiedeln.
"Das war der größte Schock für Sylvia, dass Laurenz von heute auf morgen einfach nicht mehr zu Hause war", erzählt Chrissy. Ihre Kollegin Sylvia ist allein erziehend, Lehrerin. Als Sohn Laurenz seine Freundin kennenlernte, siedelte er mit 17 einfach über in die neue Familie. Von einer Woche zur nächsten. Weg war er und damit Sylvias Lebenssinn. Sylvia, so erzählt mir Chrissy, schlafe seitdem in Laurenz Zimmer, angeblich, "damit sich Laurenz Hamster nicht so einsam fühlt".
"Faltrollstühle nach Rumänien", sagt Nachbarin Lodenbaum, "das ist es. Wir müssen noch was bewegen." Alte Faltrollstühle, so Frau Lodenbaums Idee, ließen sich hier doch gut sammeln und dann im Kleinlaster nach Rumänien bringen, als Spende für die Alten und Behinderten in diesem armen Land. Es ist sicher ein erhebender Gedanke, als Rollstuhlfee im Lkw mit einem Roten Kreuz auf dem Auto Richtung Osteuropa zu rauschen. Was einem so alles einfällt, nur weil die Tochter Abitur gemacht hat und demnächst ausziehen will.
"Was soll man drum herumreden", seufzte neulich Theresa, "es ist eine traurige Lebensphase, du wirst alt, faltig, die Kinder gehen weg. Auf dem Jobmarkt giltst du als schwer vermittelbar. Du kannst froh sein, wenn der Mann nicht auch noch abrauscht." Das war schon immer das Praktische an Theresa: Alles, was man so an Negativem denken kann, bündelt sie und trägt es mit sich herum wie eine schwere Last. Dann brauche ich mich damit ja nicht auch noch herumzuplagen.
Joan ist anders. "Ist doch toll, dass deine Kleine ganz allein in eine völlig fremde Schule in die USA gegangen ist", findet Joan, "und ist doch nur für ein halbes Jahr."
"Auch Ihnen noch einen schönen Abend", sage ich zu der Frau an der Kasse. Heute Abend gibt es Milchmädchen in den Tee, dazu lese ich den Tatsachenbericht über diesen Typen, der mit gebrochenem Bein tagelang durch die einsame Schneewüste robbt bis zum rettenden Lager. Nur so komme ich durch.
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