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Kolumne GerüchteWeinen bei der Kreuzigung

Für eine spirituelle Reise muss man nicht in den Himalaja. Es reichen auch die Passionsspiele in Oberammergau.

D er Dalai Lama hat in einem Interview sinngemäß gesagt, er fände es eigentlich besser, wenn sich seine westlichen Anhänger mehr auf ihre heimischen Religionen besinnen würden, anstatt dem Buddhismus hinterherzulaufen. Stimmt schon, das sparte Langstreckenflüge und wäre gut für die Umwelt. Praktisch also, dass Christoph Karten für die Passionsspiele in Oberammergau besorgt hat. Nicht so sehr aus Heimatverbundenheit. Sondern aus Neugier.

"Alle zehn Jahre", sagt Christoph, "das ist doch ein Ereignis." Wir sitzen unter 5.000 Zuschauern im voll besetzten Festspielhaus in Oberammergau, eine Stunde von München entfernt. Einige hundert Dorfbewohner mit langen Haaren und Bärten und in sackartigen Gewändern ziehen ein, die Freilichtbühne liegt im diffusen Nachmittagslicht. Esel, Ziegen, alles ist echt, auch die Dorfbewohner. Denn bei den Passionsspielen, die alle zehn Jahre stattfinden, dürfen nur Leute mitmachen, die im Ort geboren sind oder dort seit mindestens 20 Jahren wohnen.

"Selbst eine Fernsehaufzeichnung wurde nicht zugelassen", erklärt Christoph, "die hatten Sorge, dass das auf dem Bildschirm zu flach rüberkommt." In unsrer Privatunterkunft sprach die Wirtin immer nur vom "Spiel". Ihr Mann, ein Koch, trägt lange Haare und Rauschebart. Die 2.000 Mitwirkenden dürfen anderthalb Jahre lang nicht zum Friseur gehen und sehen aus, als hätten sie ein Gelübde abgelegt.

Bild: taz

Barbara Dribbusch ist Redakteurin für Soziales im Inlandsressort der taz.

"Richtet nicht nach dem äußeren Schein, sondern urteilt gerecht", predigt auf der Bühne Jesus, im Nebenberuf Pressesprecher eines Münchner Theater, vor versammelter Menge. Zwischen den Sprechszenen besingt ein mächtiger Chor das drohende Unheil. Nur einen Tenor habe man aus München zugekauft, sagte die Wirtin. Ansonsten werden nur heimische Stimmen zu Gehör gebracht.

Mir fällt der Reisekatalog aus dem Outdoorladen ein, in dem von einer "tiefen Religiosität" der Einheimischen die Rede war. Im Himalaja. Dort murmeln sie angeblich dauernd Mantren, um das harte Leben in eisigen Höhen zu ertragen.

Aber auch Oberammergau ist kein Zuckerschlecken. Karten bekommt man in der Regel nur im Arrangement mit mindestens einer Übernachtung. Drei Stunden sitzt man am Nachmittag auf den Holzstühlen, dann gibt es eine Pause. Dann geht es nochmal drei Stunden, bis in dunkler Nacht Jesus blutend am Kreuze hängt und die Zuschauer rätseln, ob ihn durchsichtige Plastikbänder am Kreuz halten oder man Stützen unter die Füße mogelt.

Die meisten Besucher sehen aus wie ältere Bustouristen aus der deutschen Provinz. Viele Zuschauer aus den USA stammen angeblich aus dem konservativen Bible Belt im Süden und würden Obama vielleicht auch gerne am Kreuz hängen sehen. "Wir sind unter Fremden", raunt mir Christoph zu.

Doch das gigantische Laientheater lässt mich nicht kalt. Als die Frauen den toten Jesus beweinen, der geschunden vom Kreuz gehoben wird, muss ich auch ein bisschen weinen. Christoph merkt zum Glück nichts davon. Eine Kreuzigung ist schon dramatisch. Grausam.

Den Kindern war das hier ja zu spießig. Oberammergau! Mit denen fliegen wir demnächst nach Nordindien. Wir pilgern zu den Klöstern im Himalaja. Mönche, Mantren. Viel exotischer als hier kann es nicht werden. Der Dalai Lama müsste sich das nur mal angucken.

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Barbara Dribbusch
Redakteurin für Soziales
Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).

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