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Kolumne GerüchteDie guten und die schlechten Armen

Sozialbetrüger, Dauerkranke und Hartz IV - über dieses Thema kann mein eigentlich linker Bekanntenkreis heute heftig streiten.

M it dem Sozialstaat ist es wie mit der Brötchenklappe im Supermarkt: Ich hole mir die Schrippen meist mit der Hand heraus und nicht mit dieser umständlichen Hygienezange, die an der Kette baumelt. Schließlich kaufe ich die Brötchen, die ich zuvor angefasst habe. Aber kann ich mir sicher sein, dass dies der Kunde vor mir mit seinen Riesenpranken auch tut? So ist es auch mit der Sozialpolitik: Der Blick auf andere ist immer strenger.

"Gesellschaftliche Verantwortung", sagt Wolfhard, "heute glaube ich dran. Ich bin mir ganz sicher, dass jede Menge Leute Hartz IV ausnutzen." Wolfhard, eigentlich aus der Hausbesetzerszene stammend, hat heute ein Transportunternehmen. Hohe Schulden, wenig Gewinn. Seinen Fahrern zahlt er nicht besonders viel.

Als einer seiner Leute kündigte mit den Worten, er erhalte mit seiner Frau fast genauso viel Hartz IV-Leistung wie Arbeitslohn und käme mit ein bisschen Schwarzarbeit besser klar, bröckelten bei Wolfhard alte linke Überzeugungen. "Und das war nicht mein erster Fall dieser Art", sagte er uns.

Bild: taz

Barbara Dribbusch ist Redakteurin für Soziales im Inlandsressort der taz.

Ich erwidere dann, dass Wolfhards Exfahrer eine Ausnahme ist. Dass von den Hartz-IV-Empfängern nur knapp die Hälfte arbeitslos gemeldet ist. Die andere Hälfte zieht Kinder auf oder pflegt alte Eltern, ist in einer Maßnahme, macht eine Ausbildung, bekommt die Sozialleistung nur aufstockend, fast die Hälfte der Hartz-IV-Empfänger sieht sich überdies als gesundheitlich eingeschränkt … Aber meine Verteidigungsrede dringt kaum durch. Da muss schon Britt ran und von Siggi erzählen.

Siggi ist heute 50 und sah sich eigentlich immer als Musiker, was vielleicht ein Fehler war, vielleicht auch nicht. Sein Geld hat er mit Taxifahren verdient, zeitweise einen eigenen Wagen gehabt. Heute ist Siggi schwerst krank. Magenkrebs. Neulich beantragte er Grundsicherung wegen Erwerbsunfähigkeit, was so hoch ist wie Hartz IV. Doch die Beamtin, die unvermutet in seiner Wohnung aufkreuzte, erklärte mit Blick auf seine Instrumente, er müsse erst mal die drei teuer aussehenden Gitarren und das Mischpult verkaufen, dieses Vermögen hätte er gar nicht angegeben bei der Behörde.

"So was ist natürlich eine Sauerei", räumt bei dieser Geschichte selbst Natalie ein, unsere Nachbarin. Natalie, gut über 40, sitzt im Supermarkt an der Kasse, Vollzeit. Natalie sagt, für sie gebe es "zwei Sorten" von Hartz-IV-Empfängern. Die einen, die hasst sie, "die kreuzen morgens um 11 Uhr auf mit einem Kasten leerer Bierflaschen, da könnte ich kotzen". Die zweite Gruppe aber genießt Natalies Solidarität, "zwei Bandscheibenvorfälle, über 55, die hat doch keine Chance mehr", sagt Natalie über eine Exkollegin, die auf Hartz IV landete. Natalie findet Mario Barth gut. Und Thilo Sarrazin.

Tja. Irgendwie sind wir unsere eigenen Sozialdetektive geworden. Britt sammelt jetzt übrigens für Siggi. Der bekam jetzt auch noch eine Energiekostennachforderung, 100 Euro will der Vermieter haben. Siggi weiß nicht, wie er das zahlen soll. Ich könnte bei Siggi auch mal wieder vorbeischauen. Vielleicht zum Frühstück, Brötchen mitbringen vom Supermarkt. Ob mit oder ohne Zange gegriffen.

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Barbara Dribbusch
Redakteurin für Soziales
Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).

7 Kommentare

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  • B
    blau

    das ganze dilemma liegt doch daran, dass die deutsche politik sich lieber an die regeln der eu hält, und sich dieser verantwortung stellt, aber ihr die verantwortung gegenüber dem deutschen bürger eher unwichtig erscheint? die deutschen politiker denken sie verdienen gerade so ausreichend, aber der deutsche bürger verdient immer noch zu viel? was für eine verquere welt? hey, wer macht eure wohnungen sauber, wer baut sie, und wer erleichtert euch euer leben? wir!

    jeder politiker ist ein dienstleister! nichts weiter! seit also zu diensten! genau wie viele andere bürger.

  • M
    MelliMellow

    Ich arbeite in dem Bereich, also mit Beziehern von ALG2. Der grosse Teil, ist wie schon richtig erwähnt, über 50, krank oder ohne Ausbildung- dies aus verschiedenen Gründen. Psychische Probleme und Suchtprobleme spielen auch eine Rolle. Natürlich kann ich verstehen, dass es die Kassiererin nervt,das da Jemand morgens schon Bier kauft, aber aml ehrlich: hat der wohl ein schönes Leben? Und solange nicht jeder, der seine Lebenszeit für Arbeit gibt, nicht anständig davon leben kann, solange Berufe und Löhne so unterschiedlich gewichtet und entlohnt werden, solange wird es auch Betrug ducth alle Schichten und Berufsgruppen geben. warum hacken immer alle auf den "´Kleinen" und nicht auf den "Grossen" rum???

  • BG
    Bernd Goldammer

    Der Mensch ist durch lohnende Arbeit, was er über Jahrtausende geworden ist. Das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital ist seit Menschengedenken angespannt. Ich habe erst kürzlich gelesen, dass die Lebenserwartung von Harz IV Empfängern wesentlich niedriger liegt als die von Beamten. Letztere schmarotzen sich mit Staatsgewalt durchs Leben. Wer mit 45 spürt das sein Berufsleben zu Ende ist,oder wer panische Angst davor hat, das ihm das unmittelbar bevorsteht, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit krank an Körper, Geist oder Beidem. Wir haben sehr gute Beispiele für Besseres in Europa. 95 Prozent aller Harz VI Empfänger wollen arbeiten! Die Seele lebt schließlich mit! Für Lohn natürlich, nicht für Abfall. Asozial sind Jene, die die Notlage dieser Menschen ausnutzen, in die sie einst von ROT-Grün gepresst wurden.

  • B
    Bendemann

    Wo ist denn der Unterschied zum Unternehmer, der so geringe Löhne zahlt, dass die Mitarbeiter aufstocken müssen? Oder der die Ausbildung seiner Mitarbeiter über Bildungsgutscheine finanziert? Oder, oder, oder...

     

    Sowohl der Unternehmer als auch der oben genannte Fahrer handeln nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Weshalb ist das eine legitim, das andere aber verwerflich?

  • H
    HannaP

    Es ist nicht alles Schwarz-Weiß, aber die Menschen hätten es gerne so, weil sie dann die Welt einfacher wähnen.

     

    In unserem Ort schummeln so einige Kleinunternehmen bei der Vorsteuer, stellen Schwarzarbeiter an, nutzen Azubis als Arbeitskräfte (aus), melden die Ehefrau als Bürokraft an, setzen alles, was nur geht, von der Steuer ab, beschieten Versicherungen ... und warten vielfach ewig lang darauf, dass ihre Kundschaft zahlt, die es immer weniger kann, weil sie z. B. bei Selbständigen angestellt sind, die immer weniger zahlen, befristet anstellen, Leiharbeit anwenden, nur noch Teilzeitarbeit finden usw. usw.

     

    Selbständigkeit und eigene Sterblichkeit sind sicher nicht leicht auszuhalten, (un)bewusst abgewehrte Angst fördern Neid und Stigmatisierung. Das Problem ist, dass uns von klein auf beigebracht wird, uns ständig mit anderen zu vergleichen.

     

    Selbständigkeit hat Vorteile, aber auch Nachteile. Angestelltentum hat Nachteile, aber auch Vorteile.

    Irgendwie denken aber viele, dass man alles gleichzeitig haben kann. Eben: Schwarz oder weiß.

     

    Schauen wir von klein auf zu viele Kinofilme?

  • E
    Euromeyer

    Das Problem ist, dass die Menschen Soziale Rechte nicht als Eigentum verstehen.

    Deswegen akzepieren sie Sozialstreichungen, Renteneintrittsaltererhöhungen und anderes eher als Erbschafts-, Eigentums- und Einkommenssteuern. Obwohl beides direkte Auswirkungen auf den eigenen Wohlstand hat. Genauso akzepieren sie Multimillionenerben und höchstbezahlte Manager sowie Steuerflüchtlinge wie Schuhmacher eher, als `Sozialschmarotzer`.-Obwohl das verfügbare Einkommen beider Gruppen von der arbeitenden Bevölkerung erwirtschaftet werden muss.

     

    Die Leute sollten, statt sich aus Neid selbst soziale Rechte(Einkommen) zu beschneiden, anfangen Gedanken zu machen, inwiefern die Produktivität der Vermögenselite in Relation zu ihrem Einkommen steht.

    Wenn 1000 Leute 150 Harzler oder einen nichtarbeitenden Erben ernähren müssen-wer ist dann der Volkseinkommensverschwender?

  • H
    hto

    Tja, "liebe" Barbara, die Ursache ALLER Probleme, unserer UN-Art des "Zusammenlebens" wie ein Krebsgeschwür, ist der im Zeitgeist verankerte "freiheitliche" Wettbewerb, nebst Glauben an "Individualbewußtsein", "gesundem" Konkurrenzdenken, "gut"bürgerliche Bildung zu Suppenkaspermentalität auf Sündenbocksuche, Hierarchie in materialistischer "Absicherung", Konfusion in Überproduktion von systemrationalem Kommunikationsmüll, leichtfertiger Übertragung von Verantwortung an die gewählten "Treuhänder" der "Demokratie" durch Kreuzchen auf dem Blankoscheck, usw., solange es Kapitulations- und Kompromissbereitschaft für dieses bewußtseinsbetäubte Verkommen im geistigen Stillstand gibt - bla, bla, bla!?