Kolumne Geht’s noch?: Die ganze Gier der Gaffer
Angela Merkel zittert bei öffentlichen Auftritten. Darüber zu berichten ist richtig, sich daran zu weiden hingegen verächtlich.
W er in der Politik Verantwortung trägt, muss sich befragen lassen. Prüfen lassen. Kritisieren lassen. Attackieren lassen. Karikieren lassen. Fotografieren lassen. Filmen lassen. Muss sich im Urlaub stören und sich den Schlaf rauben lassen. Das ist normal, darüber gibt es nichts zu jammern. Eine Kanzlerin bestimmt über andere. Deshalb gibt sie einen Teil ihrer eigenen Selbstbestimmtheit ab. Ob sie bei Kräften ist, geht andere etwas an. Doch es gibt Grenzen, und die sind diese Woche überschritten worden.
Am Donnerstag hat Angela Merkel gezittert. Im Schloss Bellevue verabschiedete der Bundespräsident die scheidende Justizministerin, und ernannte die neue. Während er sprach, stand die Kanzlerin neben ihm, die Arme vor dem Körper verschränkt, ihre Beine schüttelte es. Schon vergangene Woche war Ähnliches passiert, sie wartete mit dem ukrainischen Präsidenten darauf, eine Ehrenformation der Bundeswehr abzuschreiten, vorher spielte noch eine Kapelle. Merkel zitterte.
Noch mal: Darüber zu berichten ist legitim. Aber es wird eben nicht nur berichtet. Es wird gedichtet, gehöhnt und gegafft. Die Nachrichtenagentur dpa und das ZDF bringen Videos von der Szene beim Bundespräsidenten. Die Kamera zoomt auf Merkels Oberkörper, senkt sich dann abwärts, scannt sorgfältig ihre zitternden Beine. „Ganzer Körper betroffen“, stellt der Münchner Merkur fest. „Sorge: Hat die Kanzlerin Parkinson?“, fragt die Berliner Morgenpost. Die Bild bietet gleich mehrere Diagnosen unterschiedlicher Ärzte auf: orthostatischer Tremor. Schüttelfrost. Diabetes. Multiple Sklerose. Auf Twitter empfiehlt jemand Merkel eine berufliche Zukunft als Barmixerin – nur ein Beispiel für viele Widerlichkeiten.
Merkel wird all das aushalten. Sie hat ihr Zittern nicht im Griff. Andere Leute haben eher Hirnprobleme; beziehungsweise hapert es in der Region, wo der Anstand angesiedelt sein sollte. Das größere Übel liegt woanders: in der Botschaft, dass in der Politik nur roboterartige Figuren unterwegs sind, die nie schwach sein dürfen. Wenn doch, kann man mit ihnen alles veranstalten, inklusive Ferndiagnosen und Kamerafahrten unter die Gürtellinie. Die Demokratie leidet, wenn es so wird, dass in die Politik nur geht, wer sich dem aussetzen will: der ganzen Gier der Gaffer.
Im Übrigen scheint es für jene, die bei den Terminen anwesend waren, verblüffend klar gewesen zu sein, das Selbstverständliche nicht zu tun: die Zeremonie wenigstens kurz zu unterbrechen, weil es jemandem schlecht geht.
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