Kolumne Fußballland: Netzer ist Biberkopf
Über das Auftauchen von Fußballmotiven in der bundesdeutschen Kunst.
Am Anfang war immer Netzer. Oder andere Fußballstars. Aber vor allem Netzer. Denn Rainer Werner Fassbinder liebte Fußball, und eine seiner eindringlichsten Szenen verwebt die Filmhandlung mit dem größten Spiel in der Geschichte des deutschen Fußballs. In den letzten zehn Minuten von "Die Ehe der Maria Braun" lässt uns der Regisseur Herbert Zimmermanns Reportage des WM-Endspiel 1954 hören, und wir sehen Maria, gespielt von Hanna Schygulla. Während Deutschland auf dem Weg zum später symbolisch aufgeladenen Titelgewinn ist, erlebt sie ihren Moment der Wahrheit. Maria trägt Unterwäsche und schwarze Seidenstrümpfe, doch die Zeit der Verführung ist vorbei. Es offenbart sich, dass ihr Leben auf Lügen und Betrug fußt. Sie zündet eine Zigarette an, und weil sie zuvor den Gasofen in der Küche angestellt hatte, gibt es eine Explosion. War es ein Unfall oder doch Selbstmord? Mit dem Blick auf ihren toten Körper hören wir weiter Zimmermann: "Aus, aus, aus, Deutschland ist Weltmeister."
Maria Braun hat nie Netzer geheißen, eher trugen Oswald oder Hermann, die wichtigen männlichen Figuren aus dem Film, seinen Namen. Selbst Franz Biberkopf, die Hauptfigur aus Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz", den Fassbinder in legendärem Halbdunkel verfilmte, trug zunächst den Namen Netzer. "In den ersten Entwürfen der Drehbücher hat Fassbinder immer die Namen von Fußballstars benutzt. Ich musste sie dann ändern, weil es sehr irritierend war, wenn man das Drehbuch las und die erste männliche Rolle Günter Netzer heißt", erzählte vor einigen Jahren der 2004 gestorbene Peter Märtesheimer, der als Drehbuchautor und Produzent über viele Jahre mit Fassbinder zusammengearbeitet hatte.
David Winner sprach damals mit ihm, denn der englische Autor liebt neben Fußball vor allem das Kino. Winner ist Autor von "Oranje Brillant", dem großartigen Buch über den holländischen Fußball, für das hier schamlos geworben sein soll (Obwohl das mehr als anrüchig ist, denn die deutsche Version wird demnächst in einer von mir herausgegebenen Buchreihe erscheinen). Aber Winner verdient es, sich für ihn ein wenig die Finger schmutzig zu machen, denn er ist nicht nur ein sehr liebenswürdiger Mann, sondern auch einer mit überraschenden Ideen, die stets etwas Tagträumerisches haben, als wäre der Film noch nicht vorbei oder das Spiel nicht abgepfiffen.
Zu Fassbinder waren wir über Gerd Müller gekommen, in dem Winner das Gegenstück zur Rolle des Killers im Film - oder besser: des Todesbringers - sieht. "Er ist keine Ikone, sondern ein Archetyp", erklärt er, was mit Abwesenheit von Emotion, aber auch Moral zu tun hat. Der Gedanke will aber noch weiter ausgearbeitet sein und mit einigen Zeitzeugen besprochen werden. Mit Paul Breitner hat Winner schon geredet und kam verblüffenderweise zu dem Schluss, dieser sei "absolut reizend".
Auch mit Netzer hatte er damals gesprochen, und der war über seinen Heldenstatus bei Fassbinder gerührt. "Wirklich? Ich wusste das nicht. Ich hätte ihn gerne getroffen, schade." Und dann erklärte Netzer seinem Gesprächspartner aus England, dass ihn auch Maler und andere Künstler früher sehr gemocht hätten. Mit Markus Lüpertz ist er sogar befreundet. "Sie haben etwas in meinem Fußball gesehen, die 68er mochten mich sehr. Sie konnten sich über meine Spielweise definieren."
Fassbinder war einer der ersten Künstler, der sich für Fußball als Motiv interessierte. Aber er setzte es in "Die Ehe der Maria Braun" nicht als Fan, sondern als Künstler ein. Märtesheimer sprach mit Winner über die Frage der deutschen Schuld und wie der schlichte Sieg in einem Fußballspiel unter den Augen der Welt in Deutschland wahrgenommen wurde. "Es war ein angenehmes, heilendes Gefühl. Und, tja, daher war es schon beißend ironisch, Zimmermanns Kommentar so einzusetzen."
Das war übrigens Fassbinders Idee, den man gerne auch noch gefragt hätte, welche Spieler in den ersten Entwürfen seiner Drehbücher noch Heldenstatus genossen.
Christoph Biermann, 47, liebt Fußball und schreibt darüber
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!