Kolumne Die eine Frage: Der Macron-Spirit
Die FDP wäre eine Super-Oppositionspartei, Christian Lindner könnten wir weiter blöd finden. Aber ist es nicht ein Segen, dass er regieren muss?
Was für ein Blödmann“, sagte die super Frau auf dem Sofa neben mir, als sie Christian Lindner in einer Talkshow sah. Selbstverständlich schütze ich ihre Anonymität, aber man kann verraten, dass der FDP-Chef noch gar nichts gesagt hatte. War nicht nötig. Es brach „natürlich“ aus ihr heraus und bedurfte damit keiner weiteren Begründung.
Nun kann man aus der medialen Rezeption und aus der Sondierungsrunde heraus schon den Eindruck vermittelt bekommen, dass es inhaltliche Begründungen gibt für das sozialökologische Milieu, um Lindner blöd zu finden, speziell seine Ideen zur Steigerung der Erderhitzung. Nur betreiben die anderen faktisch diese Politik auch – oder sehen ohnmächtig zu. Mit Twitter kriegst du das definitiv nicht geändert. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse nur mit Lindner.
Denken wir also groß, was soll’s, und fragen, wozu wir im Leben miteinander sprechen. Das ist das Band, das uns verknüpft. Wir sprechen miteinander, um uns als etwas Gemeinsames zu erleben.
In Teilen der Gesellschaft, die die Regierungssondierungen verfolgen, ist die Kultur völlig anders. Man spricht zum anderen, um sich darin bestätigt zu sehen, dass man sich nichts zu sagen hat. „Die Gräben ausleuchten“, wie Winfried Kretschmann das nennt. Und dann sagen: „Wusste ich’s doch, dass das Arschlöcher sind.“ Das ist die Kultur der alten Kernmilieus, die hinter den Verhandlern stehen, und zu der die Politiker sich verhalten.
Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Das muss man jetzt eben überwinden. Zunächst in der politisierten Mediengesellschaft, damit die Parteivertreter den Druck spüren, etwas hinzukriegen, und nicht die Angst, dafür ausgeschimpft zu werden. Es braucht ein anderes Sprechen, durchaus kontrovers, aber auf der Grundlage, dass es um das Gemeinsame geht. Um uns.
Das haben Kretschmann und CDU-Strobl in Stuttgart, Kubicki und Habeck in Kiel riskiert und ordentlich hinbekommen, also scheint das nicht menschenunmöglich zu sein. Das versuchen inzwischen grüne Sondierer, und da sind sie ausnahmsweise wirklich state of the art.
Jetzt hat die FDP allerdings ein echtes Problem. Lindner hat sie neu aufgebaut als liberale Alternative zu den aus seiner Sicht allesamt sozialdemokratischen Mitbewerbern. Er hat trotz AfD der nationalliberalen Versuchung widerstanden. Er hat die Mehrheitsvorbehalte gegen neue sozialökologische und europäische Wirtschaftspolitik mit antigrünem Spin bedient und davon profitiert.
German Mut, Europa gut
Die Union ist geschwächt, die SPD siecht, die Grünen müssten jenseits von Jamaika an ein Beatmungsgerät. Die FDP wäre die absolute Super-Oppositionspartei.
Lindner könnte die Kommunikation weiter mikroskopisch steuern, die Andersartigkeit der FDP behaupten, Ressentiments bedienen, die Ansprüche der digitalen, jungen Gesellschaft rhetorisch vertreten und in aller Ruhe weiterwachsen. Aber nun ist es halt anders, so ist das Leben.
Was bisher über die FDP rübergekommen ist: Oh, Gott, keine Kohlekraftwerke mehr. Oh Gott, keine Dieselautos mehr. Das klingt wie das üblich verängstigte Klammern an das Überkommene, das es wirklich im sozialdemokratischen Überangebot gibt.
Wenn ich Lindner richtig verstehe, geht es jetzt darum, dass die Zukunft nicht verweigert oder als soziale, ökologische oder wirtschaftliche Katastrophe beschrien wird. Sondern angegangen. German Mut, Europa gut.
Der Macron-Spirit als neue Kultur und Dach einer experimentellen Mehrheit, die sich aufeinander einlässt, um es hinzukriegen: Diesen Spirit gesellschaftlich zu implantieren ist das größte und nobelste Versprechen von Christian Lindner. It’s now or never.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid