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Kolumne Die ChartsWo ist das Deutschlandfähnchen?

Die Charts heute mit Folge VIII von "Das Content Department": Warum Mies den Chef insgeheim "Fritzl" nennt.

Als Kern um 8.41 Uhr im Content Department einlief, war sein Deutschlandfähnchen verschwunden. Er fand es angekokelt im Papierkorb und griff sich entsetzt ans Herz. Das konnte nur sein vaterlandsloser Stellvertreter gewesen sein! Der Ressortleiter nahm eine Flasche Spreequell, schüttelte sie und spritzte damit unter den Schreibtisch. Eine Stunde später kam Mies unter großem Gefluche hochgekrabbelt, und sie schrien sich erst mal fünf Minuten an.

Bild: Marco Limberg/X-Press

Peter Unfried ist stellvertretender Chefredakteur der taz.

Kern war der Meinung, dass Mies als verlogener Altlinker ein verkrampftes und ungesundes Verhältnis zu dem Land hatte, das ihn hegte und pflegte wie kein zweites auf der Welt.

Mies war der Meinung, dass Kern ein infantiler Hosenscheißer war, der auf seiner halbgaren Suche nach ein bisschen eigener Identität auf eine Fußball-EM und die Tore eines in Polen geborenen Kölner Fußballsöldners angewiesen war.

Im Gegenteil: Mit einer Deutschlandfahne ein Tor von Poldi zu bejubeln, hielt Kern für ein "erfrischendes Zeichen von Normalität, mit dem wir Deutschen der Welt unser sympathisches Gesicht zeigen". Das hatte er in einem Leitartikel geschrieben, den der Chef in der Gesamtkonferenz laut vorgelesen und ausdrücklich gelobt hatte. Mies hätte gerne gekotzt, traute sich aber nicht. Wer vor dem Chef auch nur etwas sagte, kam neuerdings sofort in die sogenannte "Entwicklungsabteilung". Die lag angeblich irgendwo im Keller. Vermutlich nannte Mies den Chef deshalb insgeheim immer "Fritzl". Bewiesen war aber nichts. Bisher war jedenfalls kein Kollege jemals aus der Entwicklungsabteilung zurückgekommen. Mies hatte dann zur Kompensation seiner Feigheit am frühen Nachmittag Kerns Geschmiere mit in den "Blauen Affen" genommen. Um die Stimmung anzuheizen, las er den Kommentar bereits ein Dutzend Biere später unter unablässigem Prusten laut vor. Seltsamerweise war er der Einzige, der lachte. Die anderen kapierten einfach nicht, wo das Problem war.

Und genau das ist das Problem, dachte Mies bitter. Es wurde dann trotzdem noch ein halbwegs lustiger Abend. Jedenfalls wusste er heute nicht mehr, wie er unter den Tisch des Content Department gekommen war.

Das war in der Regel ein gutes Zeichen.

Mies schlüpfte in eine leider nicht ganz frische Unterhose und groovte sich in Rage. "Wer näht denn deine Deutschlandfahne für ein paar Pfennig am Tag? Und wer verdient Millionen daran? Und: Warum spielt die Türkei selbstverständlich bei der Euro, darf aber nicht in die EU?"

Das seien doch die Fragen. Kerns kindliche Flucht in nationale Anachronismen schade dem europäischen Projekt, sagte Mies. Danach machte er ein paar richtig fiese Witze über die Österreicher und die Polen, die Italiener und die Franzosen. Kern unterdrückte nur dank seiner unglaublichen Selbstdisziplin den Impuls, zu lachen.

Dieser scheinheilige Drecksack, dachte er angewidert.

Er hatte auf dem Weg ins Department einen Türken-Ford gesehen, an dem ein Deutschland-und ein Türkenfähnchen nebeneinander im Morgenwind geflattert hatten - in perfect harmony wie Ebony and Ivory.

Das hatte ihn sehr berührt und daher wollte er dem Chef einen Kommentar anbieten, in dem er nachdrücklich das Nachdenken der Politik über eine ganz besonders privilegierte Partnerschaft zwischen Europa und denen einfordern würde. Na ja, "ganz besonders" war vielleicht überzogen, "besonders" tat es sicher auch. Zu weit aus dem Fenster lehnen wollte er sich wegen dieser Sache nun auch wieder nicht. Fortsetzung folgt.

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