Kolumne Das Schlagloch: In der Gleitwirklichkeit
In Ost und West bekommt das zivilisationsgestresste Volk das Zittern.
So ein neues Jahr soll man mit Optimismus beginnen. Aber dann dürfte es nicht im Januar anfangen. Oder ist besseres Wetter nur Schönfärberei, atmosphärische Täuschung?
Wir fallen doch immer wieder auf blaue Himmel herein.
Wahrscheinlich ist der Mensch das Lebewesen, das nur in atmosphärischen Täuschungen existieren kann. Ihre verfestigten Großformen hörten zuletzt auf Namen wie gesellschaftlicher Fortschritt oder Utopie. Hier sind die Januar-Fakten, grabplattengrau wie der Himmel über Berlin: Der Mensch ist wahrscheinlich doch der größte Irrtum der Natur. Allein kommt er nicht klar, zu zweit kommt er nicht klar, und in je größeren Mengen er auftritt, desto größere Schäden richtet er an. Und dann ist da auch noch Nokia. Es gibt eben keine gelungene Vergesellschaftung. Und nicht einmal bei den Aussteigern ist Hoffnung. Die "Fundus"-Gruppe hat soeben dem Berliner Kunsthaus "Tacheles" gekündigt, zum Jahresende. Die Tacheles-Künstler wollten nichts als den freien, selbstbestimmten Ort für die freie, selbstbestimmte Kunst freier, selbstbestimmter Menschen. Und was ist geworden, ganz ohne "Fundus"? Im höchsten Maße unfrei - eingeengt durch die bloße Existenz ihres Tacheles-Nebenmenschen - versuchen sie ihren Nächsten zu bestimmen statt sich selbst und kommen, hört man, gar nicht mehr recht zur Kunst.
Dabei gilt der Künstler - zumindest im abendländischen Gedächtnis - gewissermaßen als der vollkommene Mensch. Und der träumt, solange er denken kann, von einer Künstlerkommune, von der Gemeinschaft Gleichgesinnter. Und heraus kommt regelmäßig ein Anwendungsfall des Stalinismus. Dagegen darf "Fundus" doch gewissermaßen als schöne Menschengemeinschaft gelten.
Den Menschen zuzuschauen, macht menschenmüde, vor allem im Januar. Nur in den Bergen ist es etwas besser, denn dort sind die Prioritäten klarer verteilt. Das Maß aller Dinge ist der Mensch? Typischer Irrtum der Stadt, kein Gebirgsbewohner würde das ernsthaft behaupten. Und der alte Wirt eines bayerischen Cafés sagte zu einer jungen Frau: "Foahren S mal auf den Jenner, das wird Ihnen guattuan!" Die junge Frau, erklärte der Wirt nachher, hatte nämlich "das Zittern". Und das hätten immer mehr Menschen, auch ganz junge wie diese Frau, und die kommen nun alle her, um das Zittern wieder zu verlernen.
Das Zittern kommt natürlich von der Zivilisation. Regelmäßig ermitteln Meinungsumfragen in West und Ost die Meinung, die Berliner Mauer solle wieder aufgebaut werden. Natürlich galt das Volk noch nie als besonders erleuchtet, das Umfragen-Volk erst recht nicht, was aber auch an den Umfragen liegt. Wer würde nicht mit Ja antworten, wenn so ein Umfrager wissen will, ob die Mauer wieder aufgebaut werden soll oder nicht. Aber bei denen, die nicht ihre geistige Würde gegen die Vulgärsoziologen verteidigen, steht etwas anderes hinter diesem Ja. Der zivilisatorische Stress! Als die Mauer noch stand, war das "Zittern" nicht so stark, östlich und westlich von ihr.
Es konnte auf keinen Fall schaden, auf den Jenner zu fahren. Das war schon in der Seilbahn klar. Kaum hatte die Gondel die Talstation verlassen, wurde die Welt ganz still. Nicht einfach leise, sondern hörbar leise. Bestimmt gibt es gar keine bessere Medizin gegen das Zittern. Es kam darauf an, wachsamstes Misstrauen gegen den durchsichtig blauen Himmel oben zu bewahren. Auf der Sonnenterrasse der Bergstation saßen in langen abwartenden Reihen kleine schwarze Vögel und stahlen Pommes frites vom Teller. Das ist das Realitätsprinzip. Es galt auch hier oben. Aber sonst:
Nur als Skifahrer ist der Mensch wirklich schön. Wenn es doch ein Modell gelungener Vergesellschaftung geben sollte, dann ist es gewiss die Skipiste. Wie leise, fast geräuschlos die Menschen aneinander vorbeikamen. Und mit welch bewundernswerter Eleganz sie einander auswichen. Aufsteiger? Absteiger? Aber keiner wollte nach oben, alle fuhren in stillem Einverständnis nach unten. Jeder ganz für sich und doch alle gemeinsam. Was für eine Gleitwirklichkeit!
Nun gut, könnte man sagen, das sind die Jungen und Schönen. Stimmt aber nicht. Manche konnten garantiert nicht mehr gut laufen. Es sollte immer eine Alternative im Leben geben. Wer nicht mehr laufen kann, fährt Ski.
Am meisten stören sich Menschen durch das, was sie sagen. Ist es ein Zufall, dass fast jeder intelligenter wirkt, solange er nicht redet? Ein Lesesaal oder eine Skipiste - kein großer Unterschied. Dabei waren bestimmt welche auf dem Berg, die abends "Das Wunder von Berlin" gesehen haben, den neuesten Beitrag des ZDF zur DDR-Geschichtsaufarbeitung.
Er handelte von einer DDR-Nichtskiläufer-Familie in höchstem Zivilisationsstress: der Vater Offizier bei der Staatssicherheit, die Mutter beim "Neuen Forum" (Bürgerrechtsbewegung) und der Sohn ein Punk. Die hatten das Zittern. Ja, das gab es auch. Die meisten DDR-Bürger dagegen hatten keins, weil ihnen ihr Staat schnurzpiepegal war, aber trotzdem für sie sorgte. Stress dagegen beginnt immer da, wo einem zu wenige Dinge egal sein können.
Das verunsichernde Ergebnis solcher Filme wie "Das Wunder von Berlin" besteht darin, dass man hinterher viel dümmer ist als vorher. Ein Punk, der sich im letzten Jahr der DDR - Gorbatschow überstrahlte alles - zu ihrem letzten Fan entwickelte, und das ausgerechnet bei der NVA? Vielleicht sollten sich Drehbuchautor und Regisseur bei allen Punks in West und Ost entschuldigen. Und bei der Jugend von damals gleich mit.
Am Ende bleibt einmal mehr die Vorstellung, die Kommunisten haben die Mauer gebaut, weil sie naturböse waren. Ein naiv-moralisches Bewusstsein als öffentlich-rechtlich gefördertes Maß historischer Einsicht und kein Bewusstsein mehr davon, dass selbst Amerika erleichtert war, als die Mauer endlich stand. Weil sie einen Zustand befriedete - oder besser: zementierte -, der damals nicht anders zu befrieden war.
Der Autor Friedrich Dieckmann hat einmal gesagt, die DDR war der gelungene Versuch, die Deutschen an ihre neue Ostgrenze zu gewöhnen. Nie hätte Adenauer verstanden oder gar unterschrieben, dass Deutschland künftig an der Oder zu Ende sein sollte. Das im gesamtdeutschen Maßstab zu begreifen, dauerte fast ein halbes Jahrhundert, und genau so lange gab es die DDR. Ein real existierender Erkenntnisaufschub, und in dessen Innern träumten die Kommunisten, die nur Statthalter eines Übergangs waren, was sie jedoch nicht wussten. Naturböse waren sie aber nicht. Denn auch sie dachten an die Skipiste.
Der Sozialismus als Gleitwirklichkeit: Alle fahren in eine Richtung und haben dasselbe Ziel! Die alten Kommunisten verstanden bloß nicht, dass es Menschen gab, die nicht mitgleiten wollten. Oder gar die Piste wechseln. Das waren, dachten sie, die Schlimmsten, Glücksverweigerer.
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