piwik no script img

Kolumne Das SchlaglochDie falsche Botschaft

Kolumne
von Hilal Sezgin

Warum erhält die Initiative, die gegen religöse Toleranz kämpft, so viel Zustimmung?

Bild: privat

Hilal Sezgin lebt als freie Publizistin in der Lüneburger Heide.

Eine Freundin von mir ging kürzlich in Berlin zum Kinderarzt. Dort lag eine Unterschriftenliste zum Volksbegehren Pro Reli aus, und weil der Arzt erklärte, das Volksbegehren setze sich dafür ein, dass muslimische Kinder muslimischen Religionsunterricht haben dürften, nahm die Freundin den Stift und unterschrieb. Die Initiative weiß ihre Worte nämlich geschickt zu wählen "Ein staatliches Fach Zwangsethik zeigt einen Mangel an Toleranz gegenüber anderen", heißt es in der Begründung. "Berlin lebt von seiner kulturellen Vielfalt. Diese gilt es zu respektieren."

Doch was genau wird bei der bisherigen "Zwangsethik" angeblich nicht respektiert? Zwar haben sich der ursprünglich christlichen Initiative inzwischen auch die jüdische Gemeinde zu Berlin und der Zentralrat der Muslime in Deutschland angeschlossen. Aber mit der erwähnten Vielfalt sind eigentlich weniger die Unterschiede zwischen den Religionen, sondern vor allem die zwischen Religiösen und Säkularen gemeint. Unterschiedlicher Religionsunterricht je nach Konfession oder Religion ist an Berliner Schulen ohnehin schon erlaubt. Allerdings ist bisher Ethik Pflicht, und genau dagegen begehrt das Pro-Reli-Volk auf: Die Kinder beziehungsweise wohl eher ihre Eltern sollen von nun an wählen dürfen zwischen dem jetzigen Pflichtfach Ethik und dem bisher freiwilligen Zusatzunterricht Religion.

Religion statt Ethik wollen also die Pro-Reli-Leute, und zwar weil sich beim Ethikunterricht "der Staat unnötig in Weltanschauungsfragen ein(mischt)". Weil er Kinder angeblich "der Möglichkeit [beraubt], sich in ihrer eigenen Tradition zu verankern", wie Rabbinerin Gesa Ederberg meint, oder er nach Befürchtung von Maryam Weiß vom Zentralrat "eine strikte Zuweisung, vielleicht sogar noch gegen das Gewissen" bedeutet. Wenn man solche Sätze liest, fragt man sich, an wie vielen gebildeten Menschen die Entwicklung der modernen, von Philosophen gern "postkonventionell" genannten Moral eigentlich vorbeigegangen ist.

Denn Ethik oder Moral oder die Frage nach dem Richtigen und Guten ist keineswegs eine Frage der Einweisung in reine Tradition, und Ethikunterricht kann und darf kein Unterricht sein, in dem die Schüler und Schülerinnen eine Tüte voller "Werte" in die Hand gedrückt bekommen mit dem Auftrag, sie auf ihrem weiteren Lebensweg in alle Himmelsrichtungen auszusäen. Anders nämlich als bei der Sittlichkeit früherer Jahrhunderte geht es bei heutiger Moral nicht darum zu wissen, welche Anstandsregeln man in welcher Situation zu beherzigen hat; sondern sie erfordert zu diskutieren, mithin Argumente annehmen und ablehnen zu können.

"Wertevermittlung im Fach Ethik ist weltanschaulich nie neutral", heißt es bei Pro Reli - aber Ethikunterricht darf eben ohnehin keine bloße Wertevermittlung sein! So wie umgekehrt zu hoffen ist, dass die Kinder im Religionsunterricht nicht nur mit "Werten" zugeballert werden, sondern auch theologische und spirituelle Anregungen erhalten. Die Pro-Reli-Leute behandeln die ihnen suspekte säkulare Ethik, als sei sie einfach nur eine Gut-sein-Tradition unter vielen anderen und umgekehrt: Als sei Religion hauptsächlich Ethik. Bei beiden Vorstellungen schaudert es mich.

Auf ganz andere, geradezu ironische Weise hat Pro Reli allerdings Recht. Selbstverständlich ist unsere heutige säkulare Ethik, die auf dem Konzept des Individuums (statt einer Gruppe) mit unveräußerbaren und gleichen Rechten aller beruht, weltanschaulich nicht neutral! Sie beerbt nämlich die antike sowie die jüdisch-christliche Tradition. Nicht ungefiltert natürlich: Ideen wie Gleichberechtigung, Tötungsverbot und eine gewisse Verpflichtung zur Güte haben die Diskussionsprozesse früherer Jahrhunderte überstanden; andere Ideen schafften das nicht. Unsere heutige Moral, frei nach Moses und Jesus, Kant und Hegel, ist bereits Produkt dieser Religionen, die nun behaupten, ethisch "gezwungen" zu werden.

Aber es gelten eben nur mehr die Argumente, die auch jene überzeugen, die andere, rein religiöse Inhalte nicht (mehr) teilen wollten. Genau deswegen ist das, was wir heute als säkulare Ethik kennen, das gemeinsame Gut der verschiedensten weltanschaulichen Gruppen und ihre Lingua franca in Fällen des Konflikts.

Dieselbe abendländische Prägung gilt übrigens für alle anderen schulischen Inhalte auch: Unser Biologieunterricht privilegiert die moderne westliche Naturwissenschaft vor der taoistischen Fünf-Elemente-Lehre oder der feministischen Rationalitätskritik. Im Deutschunterricht lernen die Kinder, was "gute" und was "schlechte" Prosa, was realistisches Theater und was sentimentalische Dichtung ist.

Es ist allerdings kein staatlicher "Zwang", dass Kinder mit Biologie und hochkultureller Prosa vollgestopft werden, sondern der Staat trägt (idealerweise) dafür Sorge, dass alle Kinder lernen, was in Deutschland derzeit als unverzichtbar auf den Gebieten Biologie, Literatur und eben auch Ethik gilt.

Gerade weil unsere Lingua franca die einer säkularen, universalistischen Ethik ist, sind diese Inhalte immerhin verhandelbar. Und wo eine religiöse Anschauung von der gemeinsamen Basis abweicht, muss sie sich für die öffentliche Debatte in die säkulare Sprache übersetzen lassen, nicht umgekehrt. Die frommen Gegner der Homosexualität beispielsweise mögen meinen, dass Gott sexuellen Verkehr mit komplementären Genitalien anordnet; aber dass die Gesellschaft insgesamt ihre Gesetze an so vagen Eingebungen ausrichtet, können die Frommen nicht verlangen. "Es ist wie mit den Autos. Der Hersteller hat uns eine Bedienungsanleitung mitgegeben", erklärte mir einmal ein ägyptischer Prediger. So jemand muss sich von Skeptikern sagen lassen: "Es gibt keinen Hersteller. Und falls das wirklich die originale Bedienungsanleitung wäre, wäre sie ziemlich alt - wieso meinen Sie, dass sie für heutige Modelle noch gilt?"

Ich persönlich würde sagen: "Der Hersteller hat uns Schriften gegeben; doch eine exakte Bedienungsanleitung sind sie nicht." Wie dem auch sei: Als gläubiger Mensch muss man einräumen, dass man oft an den Fels kommt, an dem sich der Wittgensteinsche Spaten biegt. Es handelt sich nicht um ein Defizit der Religion, nur um ein Charakteristikum: Der Glaube kann moralische Impulse geben, aber was universalisierbare Argumente angeht, steht er per definitionem schlechter da. Vieles, was der Religionsunterricht vermittelt, wird von der allgemeinen Ratio entweder nicht unterstützt oder widerspricht ihr sogar. Kinder bekommen das Leben Mose, Jesu und Mohammeds nicht gelehrt, weil die Geschichte "wirklich" so verlief, sondern allein, weil die Eltern möchten, dass ihre Kinder sie glauben.

Das an sich ist bereits ein waghalsiges Unterfangen für eine Einrichtung mit allgemeinem Bildungsauftrag. So gesehen sollten die Religiösen weniger über das Pflichtfach Ethik klagen als dankbar sein, dass an staatlichen Schulen überhaupt Religionsunterricht angeboten wird.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Hilal Sezgin studierte Philosophie in Frankfurt am Main und arbeitete mehrere Jahre im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Seit 2007 lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide. Zuletzt von ihr in Buchform: „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs.“ DuMont Buchverlag 2017.

8 Kommentare

 / 
  • A
    Aktueller

    Man dürfte sagen, ohne Religionen keine Werte...

     

    Atheismus ist im Lehrplan (Studienstufe 3. Semester = 12. Klasse:) z.B. Feuerbach, Nietzsche etc - Atheismus ist eigentlich auch erst auf der Auseinandersetzung mit Theologien entstanden, Feuerbach hat Theologie studiert, außerdem sagt er nicht, Religion ist dumm, sondern Religion ist bei ihm sogar das erste Selbstbewußtwerden des Menschen, also auch nicht wegzudenken: die Erfahrung seiner eigenen Begrenztheit...Das alles LERNT man im Fach RELIGION!

  • M
    manfred (57)

    Ein sehr guter Artikel.

     

    Mir fällt auf, daß die Alternative fast immer Religion oder Ethik lautet. Heißt das, daß Religion nichts mit Ethik zu tun habe?

     

    Und noch eine Frage: Muß eine Schule, die Religion im Lehrplan hat, nicht auch Atheismus im Lehrplan haben? Wo bleibt sonst die grundgesetzlich garantierte Glaubensfreiheit?

  • A
    Aktueller

    Auch in der parlamentarischen Demokratie sollte es ja die Möglichkeit geben, über (Schul-)Verhältnisse zu diskutieren und die Meinung der Mehrheit der Wählerinnen und Wähler miteinzubeziehen, deshalb gibt es ja den Volksentscheid. Zu einer lebendigen Demokratie gehört ja gerade, dass über die politischen Entscheidungen des Parlaments öffentlich debattiert wird und das ist mit der Initiative Pro-Reli gegeben. Das ist eigentlich eine Binsenweisheit, die viele Mitdiskutanden aber noch nicht erkannt haben.

    Das Wort "Wahlzwang", das auf dem Plakat einer Gegeninitiative erscheint ist ja wohl eher die Verhöhnung der Demokratie.

     

    Das Problem der Schule und der Fächer Ethik und Religion liegt eher an einer anderen Stelle. Erstens ist ein pädagogischer Grundsatz, dass man nicht das Fach sondern den Lehrer/die Lehrerin lernt. Es hängt also mit der Qualität des Unterrichts zusammen, ob er zur gegenseitigen Achtung erzieht oder polarisiert. Das ist auch bei Berliner EthiklehrerInnen zu beachten, die oft früher DDR-Staatbürgerunterricht gegeben haben. Hier ist dann oft eben öfters der Atheismus bekenntnishafter Unterrichtsgegenstand.

    Religionsunterricht, so wie ich ihn kenne, ist gerade hier in Hamburg, wo ich Religion und Philosophie unterrichte, integrativ, d.h. es gibt keinen konfessionellen, sondern einen Reliunterricht, der von einem "Gesprächskreis interreligiöser Religionsunterricht" getragen wird, was ich für sehr sinnvoll erachte (vgl.: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 6 (2007), H. 1, 50-67, im Internet downloadbar).

    Das ist ein Modell auch für Berlin!

     

    Nach Art 7 GG ist der Religionsunterricht ein geschütztes Fach. Die Berliner Regelung schiebt u.a. den RU in die Randstunden und schafft somit eine unzulässige Benachteiligung, das ist einfach Fakt.

    Es wird allerdings auch eine Bewegung von seiten der Religionsgemeinschaften in Berlin vonnöten sein, um einen gemeinsamen RU anzubieten, aber ich denke, das ist der einzig gangbare Weg.

  • M
    Martin

    Die Befreiung von religösem Glauben, das Lernen selbst und frei zu denken, taugt weit eher als "Glücklichmacher" als das Beibringen von Glauben. Religion ist vor allem die Glorifizierung des banalen, des oberflächlichen und des Geist- und Gedankenlosen.

     

    Religionsunterricht in der Schule ist als institutionalisierte Kindesmißhandlung anzusehen.

  • TF
    Thomas F.

    Die Autorin hat recht, wenn sie sagt, die Religionsgemeinschaften sollte froh sein, dass Weltanschauungsunterricht überhaupt noch an Schulen gelehrt wird. Jede klare Ratio spricht gegen christliche, muslimische oder jüdische Kirchenlehre(nicht immer gegen Werte in diesen Lehren)! Sie ist Auffangbecken für Haltsuchende. Frei denkende Menschen brauchen keine Vorstellung eines Mannes mit Rauschebart o.ä. die Kirche ficht in Berlin einen Kampf um die Köpfe unserer Kinder aus. Die gilt es zu verteidigen! Statt selbsstständig und kritisch denken zu lernen sollen sie weiter Geschichten mit unglaublichem Inhalt als Wahrheit lernen.

    Ausweg in einer säkularen Gesellschaft muss sein, diese Haltsuchenden (Kirchenmäuse, um mit Koeppen zu sprechen)zu respektieren, doch sollte es Pflicht für jeden Schüler bleiben, das Denken in Philosophie und Ethik zu lernen statt sich die Märchen in Bibel, Koran oder Tora als Wahrheit und Lebensanleitung verkaufen lassen zu müssen. Jeder der Nietsche und andere Autoren wie Deschner gelesen hat, wird die Kirche ablehnen. Damit sind nicht die unzähligen Menschen gemeint, die sich unter ihrem Namen für gute Dinge engagieren!

    Christliche, islamische und sogar jüdische Werte sind teilweise sehr wertvoll!!! Jesus war sicher ein guter Mensch mit vielen guten Ideen. Was die Kirche aus seinen und den anderen Predigerlehren, die dann zur Religion erhoben wurden, gemacht hat, bedarf keines Kommentars. Religiöse Anschauungen sollten aber an Schulen im Philosophie- und Ethikunterricht nur von einer Metaebene aus betrachtet statt gelehrt werden, um den Schülern zu zeigen, an welche Dinge die Menschen früher geglaubt haben (und glauben). Sie sind wie die Autorin sagt heute für unser Leben nicht mehr passend, da wir (die Kirchenfreien) uns von den Gedankenfesseln befreit haben! Wer dann nach der Betrachtung in der Schule noch Bedarf an Geschichten hat und die dargebotenen Dinge glaubt, soll in die Kirche gehen...

  • CR
    christine rölke-sommer

    hach! endlich mal ein beitrag, der in aller klarheit daran erinnert, dass ethik mehr ist als religion, zumal in gestalt von religionsunterricht in klasse sieben! ab klasse acht spätestens neun sind die kiddies dann sowieso religionsmündig, jedenfalls in unseren breiten, und wählen den religionsunterricht ganz aus eigenen gründen wieder ab.

    weshalb ja pro-reli auch nichts anderes ist als der versuch leicht zurückgebliebener eltern, ihre kinder etwas länger unter ihrem geistigen einfluß zu behalten, als ihnen nach dem hier geltenden GG in dieser hinsicht zusteht. schon denkwürdig, dass ausgerechnet ein anwalt der ober-pappnas dieser initiative ist. hätte doch der anwalt als studierter rechtskundiger es besser wissen müssen. oder können.

     

    aber dank an Hilal Sezgin, dass sie so kurz vor ostern, dem fest der eher doch kreuzigung denn auferstehung, solch schön klare worte gefunden hat!

  • M
    mar

    Dass Glaube bei moralischen Entscheidungen den Ausschlag gibt oder die Entscheidungsfindung unterstützt, ist zum Glück selten erforderlich; gut sein kann der Mensch auch ohne Glauben. Aber glücklich? Glaube ist in erster Linie ein großer Glücklichmacher, der Freude, Vertrauen und Dankbarkeit schenkt; er ist kein "Du sollst", sondern ein großes "Du darfst". (Wo er das *nicht* ist, ist äußerste Vorsicht geboten, es handelt sich dann vermutlich um ein gefährliches Konstrukt!) Religionsunterricht kann Kindern diese Quelle zugänglich machen, wenn er *sehr* gut ist. (Kommt selten vor.) Ethik und Religion kann man also ganz gut getrennt betrachten und auch unterrichten. Religion als Grundlage von Ethik halte ich für fragwürdig. Denn Leute, die nur deshalb gut sind, weil Gott gesagt hat, dass man das sein soll, und die sich ihren schlechten Charakter nur mühsam verkneifen, weil sie hoffen, dafür in den Himmel zu kommen -- die Art Leute kann man sowieso in der Pfeife rauchen. Denen möchte man im Himmel eh nicht wieder begegnen. (Wird man auch nicht! :-)) Gutsein ohne Eigenwert, als Tauschhandel, nur gegen Belohnung, ist ja wohl das Letzte. Wer das Richtige nicht um seiner selbst willen tut, "hat seinen Lohn dahin". Das lehrt das neue Testament, aber auch z.B. das Märchen von Frau Holle.

     

    Gesegnete Ostern!

  • P
    Peter

    Ich finde, Religionsunterricht hat überhaupt nichts an einer staatlichen Schule zu suchen. Weder christlicher noch jüdischer oder muslimischer. Denn so weltoffen und tolerant sich manche Verfechter des Religionsunterrichtes auch gebären mögen - letztendlich läuft er stets auf eine Indoktrination hinaus, wenn er seinen Zweck erfüllen soll.