Kolumne Das Schlagloch: Unser Demokratieersatz
Die Regierung ist gewählt, und wir, das Volk, sinken wieder kraft- und mutlos vor unseren Fernsehern zusammen.
Die Gewinner der Bundestagswahl verhalten sich so, wie ihre zynischsten Kritiker vorausgesagt haben. Und wir, die Wähler und Kommentatoren, wir, das Volk, wir sinken wieder kraft- und mutlos in uns und vor unseren Fernsehern zusammen. Dabei: Wir haben immer noch eine Demokratie, oder? Ich meine, okay, Politainment, Lobbyismus und Sachzwänge … kein System ist perfekt.
Was wissen wir eigentlich von unserer Demokratie? Wir glauben zu wissen, dass eine demokratische Regierung die "freie Gesellschaft" verteidigen und leiten soll. Der demokratische Staat also hat zwei Versprechen. Erstens: Er will uns in der einen oder anderen Weise "mitmachen" lassen beim Regieren. Und zweitens: Er will sich aus bestimmten Lebens- und Gesellschaftsbereichen "heraushalten". Vor allem aber, das ist die Voraussetzung bürgerlichen Selbstverständnisses, in den Sphären der Kreativität und in den Sphären der Privatheit hat der Staat nichts zu suchen. Die Kunst ist frei, die Wissenschaft ist frei, und der Markt sowieso.
So entsteht nebenbei eine zweite Frage: Was weiß eigentlich der demokratische Staat von seiner freien Gesellschaft? Wenn es noch so etwas wie ein politisches Ideal gibt, dann scheint es "governance" zu sein, am besten sogar "good governance". Das meint: eine Steuerung des Systems als strukturelle Regulierung, die nicht "regiert", sondern stets das "Systemrelevante" stützt. Ein Politiker dieses Governance-Staates definiert sich öffentlich und in den inneren Kreisen der Macht durch das, was er von seiner Gesellschaft nicht wissen will, und das, was er nicht wissen darf. Governance nämlich erweitert die Steuerung des Systems durch ökonomische Nebenherrschaft, durch Experten, durch das Outsourcing, nötigenfalls auch durch NGOs. Dabei verringert er die Wahlmöglichkeiten bis zum Nullpunkt: Wenn Demokratie die Suche nach Alternativen ist, dann ist Governance die Suche nach der alternativlosen "Entscheidung".
Und die freie Gesellschaft, was weiß sie von ihrer demokratischen Regierung? Die Grenzen unseres Wissens als Subjekte der demokratischen Wahl sind schlicht die Grenzen unserer Medien. Eine Beziehung des Nichts-voneinander-Wissens zwischen dem demokratischen Staat und der freien Gesellschaft hat längst zu einer absurden Entfremdung geführt. Staat und Gesellschaft kennen sich gegenseitig eigentlich nur aus dem Fernsehen, nicht von der Agora, sondern vom Marktplatz, nicht aus der Debatte sondern vom Karneval.
Aus dem Widerspruch zwischen dem demokratischen Staat, der seine Versprechungen nicht eingehalten hat, und der freien Gesellschaft, die sich in Beutezonen des Marktes gliedert, die sich so weit als möglich dem Staat entziehen, erwächst ein verfemtes Drittes: der Populismus.
Der Populist "verführt" - indem er an die niederen Instinkte appelliert. Oder er macht sich zunutze, was ohnehin vorhanden ist, etwa "Sozialneid" oder "Gerechtigkeitsempfinden". In jedem Fall konstruiert er "wir" und "die anderen" (die an allem schuld sind, natürlich). Dem Volk wird versprochen, dass es "seinen Willen" bekommt. Dafür soll es etwas von der Demokratie des Staates beziehungsweise von der Freiheit der Gesellschaft opfern.
Freilich ist Populismus auch eine notwendige Erscheinung in der Spannung zwischen demokratischem Staat und freier Gesellschaft. In einem nicht so demokratischen Staat und einer nicht so freien Gesellschaft wird Populismus sogar zur notwendigen Reparaturinstanz. Wie anders, wenn nicht aus populistischen Impulsen heraus entstünde Empörung gegen die Verhältnisse von Bonuszahlung und Bagatellkündigung? Welche Chance hätte der Aufstand der Studierenden gegen ihre elenden Lebens- und Arbeitsbedingungen, wenn er sich nicht populistisch verstärken ließe?
Nicht Populismus an sich ist offensichtlich das Problem, sondern der "populistische Politiker". Der demokratische Politiker muss sich als ausführendes Organ des Souveräns, des Volkes, empfinden. Der populistische Politiker dagegen als dessen Ausdruck. Wenn ein Politiker die Wahl zwischen demokratischen und populistischen Mitteln hat, dann wählt er die populistischen, oder er oder sie verliert. Das heißt: Unser Problem ist die Fähigkeit des demokratischen Regierungssystems, populistische Impulse aufzugreifen bis zu einem Punkt, wo es sich daran überfrisst.
Einer der humaneren Auswege aus der demokratischen Populismusfalle scheint eine Form der "direkten Demokratie" zu sein. Doch wie die Schweiz zeigt, sind die direkten Beteiligungen des Volkes an den Entscheidungen keine Garantie für die Entwicklung des demokratischen Staates und der freien Gesellschaft. Denn auf diese Weise bringt das System noch lange keine Selbsterkenntnis, geschweige denn Selbstkritik hervor.
Der auf die Governance reduzierte taktisch-demokratische Staat definiert paradoxerweise selbst (und ganz ohne Wahl), was in seine Zuständigkeit fällt und was nicht. Er bestimmt sogar, was öffentlich und was privat ist, so dass er ohne Legitimationsprobleme eine Kampagne zur "Privatisierung" öffentlicher, gesellschaftlicher oder staatlicher Aufgaben und Unternehmen führt (mit so absurden wie unmenschlichen Endpunkten der Teilprivatisierungen von Armeen und Gefängnissen). Gleichzeitig verstaatlicht der Governance-Staat immer weitere Teile unserer Biografien, unseres Alltags, unserer Produktivkraft in den Governance-Medien von Überwachung und Abschöpfung, Sicherheit und Besteuerung. In der Mitte der Gesellschaft muss man immer mehr für einen Staat arbeiten, der immer weniger Leistungen dafür anbietet. Wohin geht unser Geld, wohin führt die Überwachung im demokratischen Staat?
In der neoliberalen Phase unserer politischen Kulturgeschichte hat sich der "demokratische Staat" beinahe unbemerkt von der freien Gesellschaft neu erfunden. Er ist ein Unternehmen der Marke "A Company Making Everything" (ACME) geworden, das nach Bedarf und Belieben in die freie Gesellschaft eingreift oder es sein lässt. Und diese Art von Governance lässt sich nur durch ein Medium wirklich verkaufen. Durch Populismus.
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