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Kolumne Das SchlaglochUnser Demokratieersatz

Kolumne
von Georg Seesslen

Die Regierung ist gewählt, und wir, das Volk, sinken wieder kraft- und mutlos vor unseren Fernsehern zusammen.

Die Gewinner der Bundestagswahl verhalten sich so, wie ihre zynischsten Kritiker vorausgesagt haben. Und wir, die Wähler und Kommentatoren, wir, das Volk, wir sinken wieder kraft- und mutlos in uns und vor unseren Fernsehern zusammen. Dabei: Wir haben immer noch eine Demokratie, oder? Ich meine, okay, Politainment, Lobbyismus und Sachzwänge … kein System ist perfekt.

Was wissen wir eigentlich von unserer Demokratie? Wir glauben zu wissen, dass eine demokratische Regierung die "freie Gesellschaft" verteidigen und leiten soll. Der demokratische Staat also hat zwei Versprechen. Erstens: Er will uns in der einen oder anderen Weise "mitmachen" lassen beim Regieren. Und zweitens: Er will sich aus bestimmten Lebens- und Gesellschaftsbereichen "heraushalten". Vor allem aber, das ist die Voraussetzung bürgerlichen Selbstverständnisses, in den Sphären der Kreativität und in den Sphären der Privatheit hat der Staat nichts zu suchen. Die Kunst ist frei, die Wissenschaft ist frei, und der Markt sowieso.

So entsteht nebenbei eine zweite Frage: Was weiß eigentlich der demokratische Staat von seiner freien Gesellschaft? Wenn es noch so etwas wie ein politisches Ideal gibt, dann scheint es "governance" zu sein, am besten sogar "good governance". Das meint: eine Steuerung des Systems als strukturelle Regulierung, die nicht "regiert", sondern stets das "Systemrelevante" stützt. Ein Politiker dieses Governance-Staates definiert sich öffentlich und in den inneren Kreisen der Macht durch das, was er von seiner Gesellschaft nicht wissen will, und das, was er nicht wissen darf. Governance nämlich erweitert die Steuerung des Systems durch ökonomische Nebenherrschaft, durch Experten, durch das Outsourcing, nötigenfalls auch durch NGOs. Dabei verringert er die Wahlmöglichkeiten bis zum Nullpunkt: Wenn Demokratie die Suche nach Alternativen ist, dann ist Governance die Suche nach der alternativlosen "Entscheidung".

Und die freie Gesellschaft, was weiß sie von ihrer demokratischen Regierung? Die Grenzen unseres Wissens als Subjekte der demokratischen Wahl sind schlicht die Grenzen unserer Medien. Eine Beziehung des Nichts-voneinander-Wissens zwischen dem demokratischen Staat und der freien Gesellschaft hat längst zu einer absurden Entfremdung geführt. Staat und Gesellschaft kennen sich gegenseitig eigentlich nur aus dem Fernsehen, nicht von der Agora, sondern vom Marktplatz, nicht aus der Debatte sondern vom Karneval.

Aus dem Widerspruch zwischen dem demokratischen Staat, der seine Versprechungen nicht eingehalten hat, und der freien Gesellschaft, die sich in Beutezonen des Marktes gliedert, die sich so weit als möglich dem Staat entziehen, erwächst ein verfemtes Drittes: der Populismus.

Der Populist "verführt" - indem er an die niederen Instinkte appelliert. Oder er macht sich zunutze, was ohnehin vorhanden ist, etwa "Sozialneid" oder "Gerechtigkeitsempfinden". In jedem Fall konstruiert er "wir" und "die anderen" (die an allem schuld sind, natürlich). Dem Volk wird versprochen, dass es "seinen Willen" bekommt. Dafür soll es etwas von der Demokratie des Staates beziehungsweise von der Freiheit der Gesellschaft opfern.

Freilich ist Populismus auch eine notwendige Erscheinung in der Spannung zwischen demokratischem Staat und freier Gesellschaft. In einem nicht so demokratischen Staat und einer nicht so freien Gesellschaft wird Populismus sogar zur notwendigen Reparaturinstanz. Wie anders, wenn nicht aus populistischen Impulsen heraus entstünde Empörung gegen die Verhältnisse von Bonuszahlung und Bagatellkündigung? Welche Chance hätte der Aufstand der Studierenden gegen ihre elenden Lebens- und Arbeitsbedingungen, wenn er sich nicht populistisch verstärken ließe?

Nicht Populismus an sich ist offensichtlich das Problem, sondern der "populistische Politiker". Der demokratische Politiker muss sich als ausführendes Organ des Souveräns, des Volkes, empfinden. Der populistische Politiker dagegen als dessen Ausdruck. Wenn ein Politiker die Wahl zwischen demokratischen und populistischen Mitteln hat, dann wählt er die populistischen, oder er oder sie verliert. Das heißt: Unser Problem ist die Fähigkeit des demokratischen Regierungssystems, populistische Impulse aufzugreifen bis zu einem Punkt, wo es sich daran überfrisst.

Einer der humaneren Auswege aus der demokratischen Populismusfalle scheint eine Form der "direkten Demokratie" zu sein. Doch wie die Schweiz zeigt, sind die direkten Beteiligungen des Volkes an den Entscheidungen keine Garantie für die Entwicklung des demokratischen Staates und der freien Gesellschaft. Denn auf diese Weise bringt das System noch lange keine Selbsterkenntnis, geschweige denn Selbstkritik hervor.

Der auf die Governance reduzierte taktisch-demokratische Staat definiert paradoxerweise selbst (und ganz ohne Wahl), was in seine Zuständigkeit fällt und was nicht. Er bestimmt sogar, was öffentlich und was privat ist, so dass er ohne Legitimationsprobleme eine Kampagne zur "Privatisierung" öffentlicher, gesellschaftlicher oder staatlicher Aufgaben und Unternehmen führt (mit so absurden wie unmenschlichen Endpunkten der Teilprivatisierungen von Armeen und Gefängnissen). Gleichzeitig verstaatlicht der Governance-Staat immer weitere Teile unserer Biografien, unseres Alltags, unserer Produktivkraft in den Governance-Medien von Überwachung und Abschöpfung, Sicherheit und Besteuerung. In der Mitte der Gesellschaft muss man immer mehr für einen Staat arbeiten, der immer weniger Leistungen dafür anbietet. Wohin geht unser Geld, wohin führt die Überwachung im demokratischen Staat?

In der neoliberalen Phase unserer politischen Kulturgeschichte hat sich der "demokratische Staat" beinahe unbemerkt von der freien Gesellschaft neu erfunden. Er ist ein Unternehmen der Marke "A Company Making Everything" (ACME) geworden, das nach Bedarf und Belieben in die freie Gesellschaft eingreift oder es sein lässt. Und diese Art von Governance lässt sich nur durch ein Medium wirklich verkaufen. Durch Populismus.

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5 Kommentare

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  • I
    impulshund

    Mir gefällt nicht, dass zwischen Republik und Demokratie nicht unterscheiden wird.

    Demokratie ist Herrschaft des Volkes und kann zu ablehnenswürdigen Zuständen führen. Republik gibt einen gewissen Rechtsrahmen vor, der nicht in Frage gestellt werden darf. Die Schweizer Minarett-Abstimmung wäre in Deutschland laut GG unmöglich. Die weitgehende Sicherheits-gesetzgebung zeigt, dass man das GG immer bei sich tragen, aber sich nicht darauf ausruhen kann. @ vic: Der Politik/Wirtschaft-Unterricht der Gegenwart ist apologetisch (das ist schon durch das Zentralabitur bedingt). In den Erwartungshorizonten tauchen z.T. unwisssen-schaftliche Begriffe auf, die aber von der FDP benutzt werden, sie sich seltsamer Weise noch in der Landesregierung befindet. Politik/Wirtschaft sollte unterrichtet, aber nicht benotet werden!

  • KW
    Knut Wuhler

    Mit Ihrem Schweizer Beispiel habe ich gar kein Problem. Denn gerade die Schweiz ist durch die Governance-Brille gesehen, ein Paradebeispiel für gelebte Governance. Im Schweizer Fall die sog. Konkordanzdemokratie. Diese historisch einmalige Konstellation beschert der Schweiz aber nicht nur Reichtum und Vielfalt, sondern auch den Titel Alpenfestung. ABER: Das ist nur eine winzige Facette des Themas und trifft den Begriff der hier so gescholtenen Governance nur am Rande. Governance heißt ja gerade, dass wie z.B. im deutschen korporatistischen System viele Akteure allgemeinverbindliche Entscheidungen vorbereiten und der Staat nur den Rahmen vorgibt und nötigenfalls eingreift. Was nicht immer ganz schlecht ist. - Tarifautonomie,.....

  • K
    Klingelhella

    Vielen Dank für diesen sehr guten und sehr aufmerksamen Kommentar! Ich möchte aber dazu nachfragen, inwieweit die Schweiz für Sie gerade nicht zeigt, dass mehr direktdemokratische Elemente "Garantie für die Entwicklung des demokratischen Staates und der freien Gesellschaft" seien.

     

    Meinen Beobachtungen zufolge ist es dort wesentlich aussichtsreicher, ein politisches Thema zur Debatte zu bringen -- und trotzdem das letzte Wort dem Stimmvolk zu überlassen. Natürlich schützt dies vor Populismus nicht; ich möchte aber anmerken, dass sich das Schweizer Stimmvolk trotz heftiger Gegenkampagnen bspw. für eine Steuererhöhung oder die Anerkennung des erweiterten Schengen-Raums mit Rumänien und Bulgarien ausgeprochen hat. Legt das nicht nahe, dass direktdemokratische Elemente, trotz real existierendem Populismus, Gesellschaft und Staat einander eher annähern?

     

    Oder woran hatten Sie im Fall der Schweiz konkret gedacht?

  • KW
    Knut Wuhler

    Ich möchte hier nur kurz anmerken, dass der Governance Ansatz dem Staat gar nicht die Fähigkeit zubilligt selber zu definieren, um was er sich kümmern will.

    Die Aussage: "Der auf die Governance reduzierte taktisch-demokratische Staat", suggeriert sogar, dass der Staat im Rahmen einer großen Strategie fähig wäre für alle Einzelereignisse Taktiken zu entwickeln und diese auch nach belieben umzusetzen. Das wäre ein Staatsverständnis, welches die Fähigkeit des Staates gewollte Ergebnisse zu realisieren weit überschätzen würde.

    Governance sieht den Staat vielmehr in der Rolle eines Akteurs, der mit vielen anderen Akteuren gemeinsam im Rahmen von Kooperationen .... allgemeinverbindliche Entscheidungen trifft.

    Die Meinung, dass der Staat Politik so gestalten kann, dass der Politik-Output, immer auch den gewünschten normativen Zielen entspricht, ist falsch.

    Governance geht davon aus, dass der Staat sehr wohl Impulse setzen soll und als sog. Schatten der Hierarchie nötigenfalls auch herrschaftliche Entscheidungen treffen kann - im Großen und ganzen ist es aber so, dass staatliche Impulse eher als ergebnisoffene Reize gesehen werden müssen.

    Vielleicht sollte man an dieser Stelle auch mal moderne Definitionen von Demokratie rezipieren, und sich z.B. mit inpout-output-legitimierten Demokratiemodellen beschäftigen.

    Ein Kritikpunkt an Governance fehlt hier auch völlig, das ist der der Machtblindheit des Ansatzes, aber das würde hier zu weit führen

  • V
    vic

    Ich habe immer gewarnt vor dem was jetzt geschieht. Ich habe diese Regierung nicht gewählt, und trotzdem sinke ich nicht wieder kraft- und mutlos in mich und vor meinem Fernseher zusammen. Aber was kann ich jetzt noch daran ändern? Alleine überhaupt nichts.

    Wir haben ein Problem. Die Bevölkerung lässt sich vor jeder Wahl nur allzu gerne von Rattenfängern belabern und reagiert am Wahltag deshalb völlig irrational. Es wird nach Kriterien einer Fernsehshow gewählt:

    "Deutschland sucht den Superwahlgewinner."

    Ich plädiere nicht erst seit heute für das Fach politische Meinungsbildung, natürlich Parteineutral, an jeder Schule bereis in der Jugend. Damit künftige Wähler Generationen endlich der Tragweite ihrer Entscheidung bewusst werden.

    Übrigends, unser nächster Kanzler heißt Guttenberg. Wetten?