Kolumne Cannes Cannes: Schlafzimmer, Hämmer, Kannibalen
Die Filmauswahl in Cannes ist groß genug, damit man auch mal was verpassen kann. Auf der Couch mit „Victoria“ und Ken Loach.
D a will man kurz den Körper zu seinem Recht kommen lassen und genehmigt sich etwas zu essen, schon ist man zu spät zur Eröffnung der Reihe „La Quinzaine des Réalisateurs“, die parallel zum Festival läuft. Gegeben hätte es den Film „Fai bei sogni“ (Träum schön) des Italieners Mario Bellocchio, etwas mit Kindheitstrauma und späterer Therapie. Saal voll, keine Chance.
Doch es gibt zum Glück genügend Auswahl. Die „Semaine de la critique“ ein paar Schritte weiter bietet auch Therapeutisches und Therapiebedürftige, in dem Fall aus dem Juristenmilieu, und das in Form einer französischen Komödie von Justine Triet. „Victoria“ – internationaler Titel „In Bed with Victoria“, man hätte ebenso gut „Victoria on the Couch“ wählen können – erzählt von einer Anwältin (Virginie Efira), bei der ihr Leben und das Bild, das sie sich davon macht, ziemlich konktaktarm nebeneinanderher laufen.
Für die Töchter hat Victoria einen männlichen Babysitter (Vincent Lacoste), damit sie als Alleinerziehende ihrer Arbeit nachgehen kann, in ihrem Schlafzimmer tauchen regelmäßig andere Männer auf, die am Ende doch nicht mit ihr schlafen, obwohl sie eigens zu diesem Zweck hinbestellt wurden. Und in der Arbeit fällt es ihr schwer, Berufliches vom Privaten zu trennen.
Die Komplikationen, die daraus resultieren, werden zielstrebig in absurde Situationen getrieben und in freundlich-boshaften Dialogen verhandelt. Das Unbehagen der Geschlechter ist ein Motor des Witzes dieses Films, der am Ende weniger wehtut, als es die Handlung vermuten lässt, ohne einen unbefriedigt zurückzulassen.
Ein gut gespieltes Pamphlet
Unbefriedigt blieb man dafür bei Ken Loachs neuem Film „I, Daniel Blake“, den man zuvor im Wettbewerb sehen durfte. Die Geschichte um den nach einem Herzinfarkt arbeitsunfähig und damit arbeitslos gewordenen Titelhelden (Dave Johns), der im Apparat der Jobcenter aufgerieben wird, ist als Kritik am Zynismus der britischen Sozialpolitik ein diskussionswürdiger Beitrag mit einer vernünftigen Botschaft.
Bloß hämmert sie Loach einem in fast jeder Einstellung mit einer solchen Nachdrücklichkeit ein, dass vom Film ansonsten wenig zurückbleibt, selbst wenn sich die Darsteller nichts zuschulden kommen lassen. So bleibt es ein gut gespieltes Pamphlet.
Wie man umgekehrt die Reichen loswird, insbesondere wenn es durch standesgemäße Inzucht degenerierte Adlige aus dem Norden Frankreichs sind, macht Bruno Dumont in seiner schwarzen Komödie „Ma Loute“ vor: aufessen.
Die armen Ärmelkanalfischer, die von den aristokratischen Touristen lediglich als authentische Kulisse geschätzt werden, rächen sich in dieser auf großes Quatschkino gebürsteten Gesellschaftssatire – fliegende Menschen gehören auch dazu – mit den Zähnen. Noch jemand Fuß?
Auf Übertreibung setzt ebenfalls der Russe Kirill Serebrennikow, der seine Verfilmung des Stücks „Märtyrer“ von Marius von Mayenburg in der Reihe „Un Certain Regard“ präsentierte. „The Student“ erzählt von der christlichen Radikalisierung eines Schülers, der beginnt, den Schwimmunterricht zu boykottieren und im Biologieunterricht gegen Sexualkunde und Evolutionstheorie aufzubegehren. Serebrennikow kostet die manipulativen Effekte dieses Fundamentalterroristen auf sein Umfeld mit Lust an der Zuspitzung aus, wobei groteske Komik und Schrecken dicht beieinander liegen. Terror kommt eben nicht nur vom IS.
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