Kolumne Cannes Cannes: Der Oger Oscar

Denis Lavant bringt in „Holy Motors“ eine ersehnte Prise Wahnsinn zum Filmfestival. Der Film ist weniger narratives Kino als entfesselte Einbildungskraft.

Man isst Strauß in „Holy Motors“. Bild: dpa

Denis Lavant ist ein außergewöhnlicher Schauspieler. Schon als junger Mann hatte der 1961 Geborene ein verknittertes Gesicht. Sein Blick ist von einer Intensität, die man normalerweise nur unter Drogen gewinnt. Scheu vor körperlichen Extremleistungen kennt er nicht. Wer gesehen hat, wie er in Claire Denis’ „Beau Travail“ (1999) zu Coronas Euro-Disco-Hit „This Is the Rhythm of the Night“ über die Tanzfläche fegt, wie er in die Luft springt, über den Boden wirbelt, mit den Armen um sich schlägt, den Kopf in den Nacken wirft, kurz innehält, bevor er die Füße wieder vom Boden reißt, das alles vervielfältigt durch eine Spiegelwand, wer das gesehen hat, der wird Denis Lavant so schnell nicht vergessen.

Besonders verbunden ist er dem französischen Regisseur Leos Carax, in den meisten von dessen Filmen spielt er die Hauptrolle, etwa in den „Liebenden von Pont-Neuf“ (1991), wo er als Clochard Alex einer erblindenden Malerin (Juliette Binoche) begegnet. Einmal läuft er an einem Strand hinter Binoche her, im Hintergrund die Wellen und die untergehende Sonne, zwischen seinen Beinen eine stattliche Erektion.

In Cannes ist er nun in „Holy Motors“ zu bestaunen, dem neuen Film von Carax, und das Tolle ist, dass der Film genauso irrlichtert wie Lavant. Carax’ Wettbewerbsbeitrag ist genau das, was bisher fehlte: die Dosis Wahnsinn, die ein Filmfestival braucht, um seinen Mut zum Außergewöhnlichen zu beweisen. „Holy Motors“ ist weniger narratives Kino als entfesselte Einbildungskraft; Lavant spielt Monsieur Oscar, doch was oder wer dieser Monsieur Oscar ist, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen.

Ein Schauspieler, der in einer Limousine von Set zu Set gefahren wird, um in je unterschiedlichen Rollen zu agieren? Ein Mann, der Stationen seines Lebens Revue passieren lässt oder sich selbst als einen Anderen erträumt? Ein letzter Mohikaner des analogen Kinos, der nicht verwinden möchte, dass die Filmkameras immer kleiner geworden sind, fast bis zur Unsichtbarkeit, und dass Maschinen und Motoren durch Festplatten ersetzt wurden? Oder doch eher ein Trägermedium für Carax’ Tour de Force durch sein eigenes Oeuvre? Am ehesten wohl: alles zusammen.

Lavant kommentiert seine Rolle im Interview mit den Cahiers du Cinéma folgendermaßen: „Es gab viel körperlichen Einsatz und bunt zusammengewürfelte Dinge, ich musste einen Satz auf Chinesisch lernen, Akkordeon spielen und Kampfkunst mit einer Verrenkungskünstlerin praktizieren.“ Manchmal habe er vier, fünf Stunden am Schminktisch gesessen: „Ich sehe mein Gesicht im Spiegel, ich beobachte, wie es sich verändert, und sobald die letzten Retuschen vorgenommen werden, bin ich bereit zu spielen.“

Unter anderem verwandelt er sich in eine bucklige Bettlerin auf einer Pariser Brücke, in einen braven Familienvater und in einen Killer, der, nachdem er sein Opfer lebensgefährlich verletzt hat, dieses Opfer in einen Doppelgänger seiner selbst verwandelt. Doch dem Halbtoten gelingt es, nach dem Messer zu greifen und es mit letzter Kraft in den Hals des Killers zu stoßen.

Die aberwitzigste Sequenz des Films variiert die Geschichte von der Schönen und dem Biest. Monsieur Oscar ist hier eine schmutzige, an einen Oger erinnernde Kreatur; er entführt ein von Eva Mendes gespieltes Model, das, als Göttin der Jagd verkleidet, gerade auf einem Pariser Friedhof posiert. Durch die Kanalisation entführt das Monster das Model, bis die beiden eine Grotte erreichen. Dort macht er aus den Stoffbahnen ihres Kleides einen Nikab, brabbelt unverständliches Zeug, entkleidet sich selbst und bestreut seinen nackten Körper mit Rosenblättern.

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