Kolumne Aufgeschreckte Couchpotatoes: Das Paradies ist nicht anderswo
In den 70er Jahren suchten Viele beim Reisen Gegenwelten. Reisende heute sehen das nüchterner. Das Paradies ist bodenständig geworden.
E lisabeth blieb damals monatelang in Indien, später wurde sie Indologin. Indien, seine Andersartigkeit, Exotik, Farbenpracht und Archaik hat sie völlig überwältigt. Werner stand auf Afghanistan, seine Traditionen, die freundlichen Menschen, die Gastfreundschaft aber vor allem auf den „schwarzen Afghanen“. Rainer liebte den Nahen Osten: den islamischen Zauber, vielleicht auch die Männerherrlichkeit, das erotische Tabu, das Geheimnis. Ulrike schwärmte für Afrika, für die Kultur, ihre Menschen, ihre Männer.
Die Exotik der 70er Jahre, als hier das große individuelle und pauschale Reisen begann, schmilzt dahin. Die Anziehung vieler Kulturen scheint im Hurrikan der Globalisierung und ihrer Mitreisenden, der Liberalisierung zerstört worden zu sein. Zumindest haben viele Länder ihre Leuchtkraft eingebüßt. Sie wurden entzaubert. Ihre Eigenwilligkeit, ihre Werte, ihre Kultur taugen nicht länger als Vorlage für Gegenwelten.
Traveller heute suchen zwar weiterhin das Abenteuer in Laos, auf dem Mekong, in der australischen Weite oder im Dschungel von Costa Rica. Verklärt wird dieses Reiseerlebnis jedoch allenfalls als individueller Selbstfindungstrip und interessante Erfahrung. Die touristische Suche nach Gegenwelten in den 70er Jahren war nicht nur erfolglos, sondern sie erscheint völlig naiv.
Indiens Image steht heute für rücksichtslose Globalisierung statt für kollektive Innerlichkeit, für Frauenunterdrückung statt exotischer Anmut. Afrikas dunkles Geheimnis ist Brutalität, Korruption und Migration. Afghanistan steht für Krieg und barbarische Männerherrschaft und der Orient ist ohnehin nur noch eine große menschliche Katastrophe, an dem jede Fantasie zerschellt. Kein Sehnsuchtsort, nirgends.
Außer Europa, wo viele hinwollen. Wegen der Sicherheit, der Demokratie, der Lebensgrundlage. Europa, das letzte Paradies? Die Bilder vom Paradies sind bodenständig geworden: Sicherheit und ein menschenwürdiges Leben sind ihr Versprechen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten