Kolumne Anderes Temperament: Einstürzende Neubauten
Im Berliner Bahnhof Friedrichstraße ergeben sich die Deckenplatten der Schwerkraft. Und nicht nur dort zeigt sich die Stadt von ihrer rumpeligen Seite.
I m Bahnhof Friedrichstraße fallen zwanzig Kilogramm schwere Betonbrocken von der Decke, im geplanten Großflughafen Schönefeld ist das Terminal schon vor Monaten eingekracht, die Decke eines neuen „Stadtquartiers“ am Leipziger Platz ist in sich zusammengefallen, die U6 zwischen Französischer Straße und Friedrichstraße liegt brach und die Einstürzenden Neubauten gehen nächstes Jahr in Down Under auf Tour.
Auch in meiner Wohnung ist alles unter Schutt begraben: Kurz vor dem vermeintlichen Weltende wurde meine Küchenwand eingerissen. Nicht nur diese Stadt, sondern auch meine Wohnung ist wenige Tage vor Weihnachten eine echt Berliner Prachtbrache. Gut, dass das alles unter Zeugen passierte, die eidesstattlich aussagen können, dass an fast allem die Betonmischung schuld ist. Und nicht der Weltuntergang.
Der ist erwartungsgemäß relativ unbemerkt vorübergezogen an dieser Stadt. Wie anderswo auch und wie an jedem Freitag wurde am 21. 12. 2012 gefeiert, gevögelt und gepöbelt. War ja auch klar, denn – wie hier zuletzt erwähnt – ist das Empörungspotenzial in dieser Stadt eher beschränkt. Der Beweis: ein Gespräch zwischen meinen deutsch-türkischen Nachbarn im Treppenhaus, nachdem meine Küchenwand eingerissen wurde: „Das hat sich angehört, als würde die Welt untergehen!“ „Und wenn schon? Wir haben Hitler, Mauer, Mieterhöhung und Sarrazin überlebt. Da kann uns so ein kleiner Weltuntergang ja wohl nichts vormachen.“
Der ist nun ja tatsächlich passé, die beliebten Berliner Brachen aber sind geblieben: der Prinzessinnengarten, das Tempelhofer Feld, der Großflughafen, der Berliner Regierungschef …
Widerspenstige Brache
Und wenn man schon beim Abrakadabra ist, sei im Brachenkontext auf eine andere Prophezeiung hingewiesen, mit der man weit weniger falsch gelegen hat als mit der der Maya: Dass nämlich der Sandwichkiez – das zwischen Nordneukölln und Kreuzberg gelegene Viertel rund um die Reichenberger Straße – gute Chancen habe, als widerspenstige Brache zu überleben. Auch weil sich die Gentrifizierung hier total langweilt.
Die neue taz.Berlin-Wochenendausgabe bietet auf zwölf Seiten unter anderem ein aktuelles Schwerpunktthema, eine stark erweiterte Kulturberichterstattung, einen Wochenrückblick und das einstige Montagsinterview.
In der aktuellen Wochenendausgabe:
- ein Schwerpunkt zu den Arbeitsbedingungen auf Berliner Weihnachtsmärkten
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- ein Text über das neue West-Berlin
Im Briefkasten oder am Kiosk.
Und siehe da: Nicht irgendwelche Bars, Biomärkte oder Carlofts sorgten dafür, dass der Reichekiez jetzt in die Schlagzeilen kam, sondern eine ordentliche politische Bewegung. Nach dem Brandenburger Tor (gut für Publicity) und dem Oranienplatz (fußläufig für viele Unterstützer erreichbar) hat sich das bedeutendste politische Comeback hierzulande nun das Gebäude der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule in der Reichenberger Straße ausgesucht und es besetzt.
Die Besetzer sind unter anderem gegen die Residenzpflicht streikende Flüchtlinge. Aufgrund der politischen Gemengelage ist nicht davon auszugehen, dass sich der Sandwichkiez in dieser Angelegenheit so verhält wie andere Kieze gegenüber den Touristen: Eine Diskussionsveranstaltung mit dem Titel „Hilfe, die Flüchtlinge kommen“ ist rund um die Reichenberger Straße kaum denkbar.
Fehlt eigentlich nur noch, dass der Regierungschef im Schnellverfahren die Residenzpflicht vollständig aufhebt, statt das Schnellverfahren gegen Flüchtlinge am Flughafen Schönefeld zu verteidigen.
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