Kolumne American Pie: Das Misfits-Märchen
Crazy, amazing: Die Neulinge von den Vegas Golden Knights stehen im Stanley-Cup-Finale – folgt nun der ganz große Coup?
D as Eishockey-Märchen geht weiter. Nein, die Rede ist nicht vom Beinahe-Olympiasieg der deutschen Nationalmannschaft, sondern von den Las Vegas Golden Knights. Denn seit Sonntag ist klar: Die Mannschaft aus der Spielerstadt, die niemand auf der Rechnung hatte, die Mannschaft aus lauter Profis, die bei anderen Vereinen ausgemustert worden waren, also ausgerechnet jene Mannschaft, die noch nicht einmal ein Jahr alt ist, steht im Finale um den Stanley Cup und kann die NHL-Meisterschaft gewinnen.
Die Reaktionen sind entsprechend: Ob TV-Experten oder Zeitungskommentatoren, Ex-Spieler oder Konkurrenten, alle finden den Erfolgslauf der Underdogs aus Las Vegas wahlweise „unbelievable“, „crazy“ oder „amazing“. Und tatsächlich: Als die Spielzeit im Spätsommer 2017 begann, hätte niemand einen Pfifferling auf die Golden Knights gesetzt, nicht einmal die Golden Knights selbst.
Noch im August verkündete Bill Foley, der Besitzer des nigelnagelneuen Teams: „Wir haben keine großen Erwartungen. Uns reicht es, wenn wir konkurrenzfähig sind, wenn wir nicht mit fünf, sechs Toren Unterschied verlieren, sondern nur mit ein oder zwei.“ Dann gab der Milliardär den Plan aus, innerhalb von drei Jahren die Playoffs zu erreichen und in sechs Jahren den Stanley Cup nach Las Vegas zu bringen. Ein Vorhaben, für das Foley nicht nur von Experten belächelt wurde.
Außenseiter oder Ausgestoßene
Tja, so kann man sich täuschen. Anstatt bloß knapp zu verlieren, haben sich die Golden Knights angewöhnt, knapp zu gewinnen. Zuletzt am Sonntag bei den Winnipeg Jets mit 2:1. Es war der vierte Sieg hintereinander gegen das favorisierte Team aus der kanadischen Provinz.
Und egal, gegen wen die Knights in der kommenden Woche im ersten Finalspiel antreten müssen, auch dann werden sie wieder Außenseiter sein. Wer der Gegner sein wird, entscheidet sich im siebten und entscheidenden Spiel der anderen Halbfinalserie, die die Washington Capitals um Superstar Alex Ovechkin am Montag mit einem 3:0 gegen Tampa Bay Lightning ausgleichen konnten.
Das Underdog-Image haben die Golden Knights mittlerweile regelrecht kultiviert: „Misfits“, also Außenseiter oder Ausgestoßene, nennen sich die Profis selbst, aus dem Trotz ist längst eine Team-Identität gewachsen, dank der sich die zusammengewürfelte Mannschaft auch gegen deutlich talentiertere Konkurrenz durchsetzt.
„Wir nennen uns selbst nicht ohne Grund die ‚Golden Misfits‘“, sagte Stürmer Ryan Reaves, der den entscheidenden Treffer gegen Winnipeg erzielte, „wir beweisen allen anderen schon die ganze Saison über, dass sie falsch lagen.“
Wie unwahrscheinlich der Siegeszug des Teams aus lauter Namenlosen – mit Ausnahme von Torhüter Marc-André Fleury, der mit den Pittsburgh Penguins schon drei Mal NHL-Meister war – ist, zeigt ein Blick in die Historie. Seit 1960 hatte es in einer der vier großen Sport-Ligen in den USA, in NFL, MLB, NBA oder NHL, erst ein frisch gegründetes Team ins Finale geschafft: die St. Louis Blues.
Das war allerdings 1968, also zu einer Zeit, als die NHL noch aus gerade mal 12 Mannschaften bestand, von denen sich 8 für die Playoffs qualifizierten. Mittlerweile hat die NHL 31 Klubs, von denen 4 – die Columbus Blue Jackets, Minnesota Wild, Phoenix Coyotes und Winnipeg Jets – noch nie im Stanley-Cup-Finale standen.
Die Golden Knights sind nicht abergläubisch
Allein das, was die Mannschaft aus dem Zocker-Paradies bisher geschafft hat, ist also schon ziemlich einmalig. Sollten sie den altehrwürdigen Stanley Cup tatsächlich gewinnen, wäre es zweifellos die größte Sensation in der Geschichte des seit 1893 ausgespielten Wettbewerbs.
Auf dem Weg dorthin hätten die Golden Knights aber nicht nur alle Wahrscheinlichkeiten und Expertenmeinungen widerlegt, sondern auch den im Eishockey so weit verbreiteten Aberglauben besiegt: Als der Mannschaft nach dem letzten Sieg gegen die Jets die Clarence Campbell Trophy, der klobige Pokal für den Champion der Western Conference, überreicht wurde, reckte Ko-Kapitän Deryk Engelland den Pott zuerst begeistert in die Höhe und kurvte anschließend überglücklich mit der Trophäe übers Eis.
Ein vehementer Bruch mit den Traditionen, denn der Aberglaube besagt, dass den Stanley Cup selbst nur berühren darf, wer die Halbfinal-Pokale links liegen lässt. „Wir waren die ganze Saison noch nicht abergläubisch“, ließ Stürmer Jonathan Marchessault anschließend wissen, „warum sollten wir jetzt damit anfangen?“ Tatsächlich: Wenn es eine Eishockey-Mannschaft gibt, der selbst höhere Fügungen nichts anhaben können, dann sind es wohl die Vegas Golden Knights.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“