Kolumne Älter werden: Hummer "à la Klassenfeind"
Damals war Christine eine Motorrad fahrende Vegetarierin und überzeugte Stalinistin. Was ist aus ihr geworden?
Christine B. mit Haaren wie Tomatenmark und der Frisur von Angela Davis war Kommunistin aus Überzeugung. Stalinistin gar. Und bekennende Maoistin sowieso. Theorieprobleme plagten sie deshalb nicht. Sie fügte Bruchstücke der Schriften der kommunistischen (An-)Führer aller Herren Länder und diverser Zeiten zu ihrem eigenen ideologischen Unterbau zusammen. Auch ein paar Anarchisten des 19. Jahrhunderts fanden darin Platz - ganz am rechten Rand.
Klaus-Peter Klingelschmitt ist Korrespondent der taz in Frankfurt. Das Bild zeigt ihn im Jahre 1968.
Denn der Anarchismus, dozierte sie gerne grinsend, doch für uns freie Radikale (Spontis) in der Fachschaft Geschichte gerade noch provozierend genug, sei doch recht eigentlich eine kleinbürgerliche Ideologie, getragen von idealistischen Weltverbesserern mit dem Hang zu individuellen (Straf-)Taten. Die Anarchisten des 20. Jahrhunderts seien deshalb von den im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner kämpfenden, von der Sowjetunion ausgerüsteten Kommunisten der Internationalen Brigaden in Barcelona und anderswo zu Recht an die Wand gestellt worden: "Keine revolutionäre Disziplin."
Christine B. trug gerne speckige Lederjacken wie Che und fuhr Motorrad wie Che. Sie rauchte selbstgedrehte Kippen (Schwarzer Krauser) und war Vegetarierin. Und Christine B. machte gerne Hausbesuche bei ideologisch nicht ganz so gefestigten Genossen. Kontrolliert wurde vornehmlich der Bücherschrank. Standen da nicht die blauen Bände komplett drin, wurde Marxschulung angeordnet; lag Heine aufgeschlagen auf dem Tisch, kam es zu langen Debatten über kleinbürgerliche Dekadenz und Hedonismus.
Heute ist Christine B. 60 plus und leitet ein Heimatmuseum in der württembergischen Provinz. Sie trägt gerne speckige Lederjacken und fährt Motorrad (BMW). Kommunistin ist sie nach eigenen Angaben noch immer. Nur vom Stalinismus hat sie sich verabschiedet. Und als Historikerin erkannt, dass die Kulturrevolution in China dann doch keine Phase der Revolutionsgeschichte gewesen sei, von der die Menschheit profitiert habe; "ganz im Gegenteil".
Christine B. reklamiert das Recht auf Irrtum für sich. Altersweisheit ist das - Gott sei Dank - nicht. Aber eine kluge Überlebensstrategie. Selbstgedrehte raucht Christine B. immer noch; jetzt allerdings mit Zigarettenspitze aus Perlmutt - wegen der Lippenkrebsgefahr. Abgeschworen hat sie dem Vegetarismus, seit sie sich vor Jahren von einem linken Koch im Restaurant "Rapiere" in Bayeux (Normandie) nach der langen Betrachtung des berühmten Wandteppichs im dortigen Museum, der von der blutigen Okkupation Englands 1066 durch die Normannen unter William dem Eroberer erzählt, zum Genuss eines auf den Punkt gebratenen Filets vom Limousinrind überreden ließ. Ein Schlüsselerlebnis.
Ein Reisegefährte aus den Reihen der (früheren) freien Radikalen - heute Verwaltungsrichter und Spezialist für Bleiberechte und Abschiebungen aller Art - begann danach ketzerisch eine Debatte über Dekadenz und Hedonismus, die sich Christine B. aber umgehend verbat. Sie orderte noch eine sündhaft teure Flasche 94er Chateau Bell Air Clos de Paradis aus dem Pomerol und erklärte dazu trocken: "Askese ist doch Faschismus." So wie alles vor 11 Uhr (Adorno).
Kommt Christine B. heute auf ihrem Motorrad zum Hausbesuch, schaut sie sich immer noch intensiv unser Bücherregal an - auf der Suche nach neuen Kochbüchern. Zuletzt lieh sie sich einen blauen Band aus: "Die regionale Küche in den USA." Wir waren dann zum Dinner "à la imperialistischer Klassenfeind" bei ihr eingeladen. Es gab Hummer aus dem Atlanik mit scharfen Saucen aus der kreolischen Küche von New Orleans zum dippen. Und als Kontrastmittel dazu weißen cubanischen Rum: "Auf Che!" Noch bis spät in die Nacht hörten wir alte zerkratze Platten von Janis Joplin: "Buried Alive in the Blues". So schön undogmatisch kann älter werden sein.
Raus: Die letzten blauen Bände, außer denen, die sich mit dem Vormärz und 1848 auseinandersetzen. Alle CDs der Stones nach Exile on Mainstreet.
Rein: Kochbuch Bretagne (Fisch und Krustentiere). Die ersten drei CDs von Jethro Tull (wiederentdeckt). Schwarzes Hemd (Signum).
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau