Kolumne Älter werden: Der Schrei des Schmetterlings
Einst glaubten wir mit unserem Herzen und waren naiv. Gut so! Denn wir haben viel erreicht.
Klaus-Peter Klingelschmitt ist Korrespondent der taz in Frankfurt. Das Bild zeigt ihn im Jahre 1968.
Der Kabarettist Mathias Tretter (30plus) durfte kürzlich im Radio seinem Überdruss an der zwanghaften Aufarbeitung der unseligen deutschen Geschichte öffentlich Ausdruck verleihen. Er könne sie nicht mehr ertragen, diese Betroffenheits- und Bekenntnisliteratur, die fast schon täglichen gesendeten Features zum leidigen Thema im Fernsehen und schon gar nicht die an Ess- und Wohnzimmertischen vor allem an die Väter und Großväter gerichtete, den Familienfrieden permanent störende, bohrende Frage: Warst du auch dabei? Natürlich habe auch sein Vater - wie fast alle Männer der Tätergeneration - immer behauptet, nur "Mitläufer" gewesen zu sein. Doch in einer Schreibtischschublade habe er dann nach dessen Tod einen Mitgliedsausweis des SDS gefunden - ausgestellt schon weit vor 1968.
Was für ein trefflicher satirischer Seitenhieb auf die verbitterten Kritikaster, die der Jugend- und Studentenrevolte faschistoide Züge attestieren und sogar Vergleiche mit dem massenmörderischen Terror der Nazis anstellen. Wie wenig Spaß müssen diese Leute damals eigentlich gehabt haben!? Und wie wenig gewusst vom "Schrei des Schmetterlings" aus der orgiastischen Komposition "When the Music Is Over" von den Doors, in der die Maximalforderung der Bewegung manifest wurde: "We want the world, and we want it - now!" Ein Aufruf zur gewaltsamen Okkupation der Erde war das sicher nicht; nur der alte Schrei nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (1789) für alle - und der neue nach love and peace: "They got the guns, but we got the numbers" (The Doors). Deutlicher kann man friedliche Absicht und demokratische Gesinnung nicht demonstrieren.
Wir glaubten mit heißen Herzen an uns und unsere Mission: die Welt von Krieg und Gewalt befreien und speziell in (West)deutschland den Muff von den "tausend Jahren" hinwegfegen. Wir waren euphorisch optimistisch und solidarisch mit allen Menschenrechts- und Befreiungsbewegungen weltweit. Und wir - die Generation 50 plus links - müssen uns dafür ganz bestimmt nicht schämen. Nicht für unsere Demonstrationen gegen das Establishment, das teilweise tatsächlich noch im Faschismus faul wurzelte, nicht für die erstmals in der Geschichte vollzogene individuelle und auch kollektive Emanzipation von der verhärteten Väter- und Großvätergeneration - und auch nicht für unsere temporäre Naivität.
Sicher, es gab die kommunistischen Sekten; und die mörderische RAF. Diese "ehrenwerten Gesellschaften" aber standen für alles, was wir abschaffen wollten: Strukturelle und reale Gewalt, Kadavergehorsam, politische Einfalt - Isolation. Geblieben ist davon ja dann auch (fast) nichts; von unserer Bewegung aber doch viel: die Gleichstellung der Frau; die zivile Gesellschaft; der Respekt vor der Freiheit des Individuums in jeder(!) Beziehung; und auch der vor der Umwelt.
Liest man aber einige (Mach)werke der aktuellen 68er-Literatur, dann war - spitz formuliert - die RAF unsere Waffen-SS. Dutschke saß im Führerbunker. Und der "rote Dany" agitierte die Massen. Man fasst es nicht - und ahnt es doch schon: "Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche" (NFS). Dass sich 40 Jahre nach 68 ein spät habilitierter Historiker, der wegen seiner linksextremistischen Vergangenheit Opfer des Radikalenerlasses wurde, mit seinen damals von den Studenten angeblich- auch mit Gewalt aus den Hörsälen gejagten Professoren solidarisiert und die "Faschismuskeule" schwingt, ist ein den Nationalsozialismus verharmlosender Treppenwitz - und ein weiterer Fall von pathologischem Alterskonservativismus.
Hüten Sie sich davor, liebe Altersgenossinnen und -genossen! Bei vollem Krankheitsbild - wie es etwa bei dem vom Links- zum Rechtsextremismus konvertierten Advokaten Horst Mahler (70plus) diagnostiziert wurde - ist die Einweisung in die geschlossene Abteilung einer (Haft)anstalt nämlich obligatorisch.
Rein: Götz Aly: "Unser Kampf 1968"
Raus: Götz Aly: "Unser Kampf 1968"
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