piwik no script img

Kolumne Älter werden"Keiner kommt hier lebend raus"

Wenn man älter wird, dann ändert sich auch die Sicht auf die Zeit. Und die Hoffnung, dass sie schnell vergehen möge.

Sun is the same in a relative way but you're older, shorter of breath and one day closer to death" (Time/Pink Floyd). Natürlich geht es Ihnen, liebe Altersgenossinnen und -genossen der Generation 50 plus links, genauso wie mir. Man sehnt sich nicht mehr ganz so doll wie früher seinen nächsten Geburtstag oder gar das nächste Weihnachtsfest herbei. Und wünscht sich am Montag auch nicht (mehr), dass es möglichst bald Freitag wird: "Gonna have fun in the city, be with my girl she's so pretty" (Friday on my mind/Easybeats).

Bild: privat

Klaus-Peter Klingelschmitt ist Korrespondent der taz in Frankfurt. Das Bild zeigt ihn im Jahre 1968.

Und das ganz bestimmt nicht nur, weil WIR an UNSEREN Geburtstagen (meist) keine wilden Partys mehr feiern, sondern lieber mit unserer/unserem Liebsten - wie an anderen schönen Tagen möglichst auch - ein gutes Restaurant aufsuchen, danach daheim noch eine Flasche Champagner leeren und dann Und auch nicht, weil WIR nicht mehr an das Christkind glauben und längst wissen, dass man nicht unbedingt in die Stadt zu fahren braucht, um ein bisschen Spaß zu haben. Die Zeit nämlich vergeht spätestens ab 40 plus ohnehin immer schneller. Da brauchen WIR nicht noch - mental - nachzuhelfen.

Eine subjektive Einschätzung, sicher, aber dennoch auch ein kollektives Phänomen - nicht nur unserer Zeit. Schon meine Großmutter konstatierte vor allem an ihren Geburtstagen immer wieder, dass die Zeit Jahr für Jahr schneller vergeht. Und dass man - sie kam an einem der letzten Februartage des Jahres 1905 auf die Welt - doch gerade erst Weihnachten gefeiert habe.

103 Jahre und sieben Monate nach diesem späten Februartag ist in rund 90 Tagen schon wieder Weihnachten. Speziell für Lehrer 40 plus also fast schon nächste Woche - gleich nach den Herbstferien.

Hilft Slow Food dagegen? Kaum. Selbst im italienischen Piemont, dem Homeland dieser Bewegung, isst man zwar noch konsequenter als jetzt auch hierzulande, also langsamer und mit Produkten aus der Region. Da gibt es einfache und raffinierte Gerichte, die mit viel Liebe und Professionalität zubereitet werden. Doch weil meist in illustrer Gesellschaft an langen Tischen gespeist wird, vergeht die Zeit wie im Flug - und der Kurzurlaub macht seinem Namen alle Ehre.

Die Tage, Wochen, Monate und Jahre rasen inzwischen nur so dahin. Und nichts und niemand hält die vierte Dimension Zeit auf in ihrem Dauerlauf.

Dass UNS das beschäftigt, dass WIR ab und an sogar schon die Lebenszeit berechnen, die UNS die Statistiker noch zugestehen, und dass WIR dann erschrecken, weil WIR wissen, wie schnell schon die letzten 20 Jahre UNSERES Lebens vorübergegangen sind - 1988 stand etwa die DDR kurz vor dem Zusammenbruch -, ist Beleg dafür, dass WIR das Wissen um die Endlichkeit UNSERER Existenz nicht mehr verdrängen: "Keiner kommt hier lebend raus" (Biografie Jim Morrison). "Die Sanduhren erinnern nicht bloß an die schnelle Flucht der Zeit, sondern auch zugleich an den Staub, in welchen wir einst zerfallen werden; glückliche Zeiten des Lebens, da man noch nicht denkt, wie alt man ist, und noch kein Buch hält über die Haushaltung des Lebens", schrieb der Physiker, Essayist und Publizist Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) in einem seiner ätzend ironischen "Sudelbücher".

Liebe Leserinnen und Leser dieser Kolumne. Ehe Sie sich jetzt Sorgen machen, weil SIE glauben, Ihr Lieblingsautor würde an einer Depression leiden und wäre plötzlich ganz und gar trübsinnig geworden, will ich Ihnen noch einen anderen Aphorismus, respektive einen guten Rat des passionierten Hypochonders Lichtenberg mit auf Ihren weiteren Lebensweg geben: "Zerbrechen Sie sich das bisschen Kopf, das Sie noch haben, nicht mit solchem Zeug!"

Oder um es mit UNSEREM Montaigne zu sagen: "Jeden Tag ein neuer Einfall, und unsere Launen enteilen mit dem Enteilen der Zeit."

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!