piwik no script img

Kohl und Genscher vor harten Gesprächen

■ Der Blitzbesuch von Bundeskanzler und Außenminister in Moskau soll die sowjetischen Besorgnisse über die rasante Entwicklung der deutschen Frage ausräumen / Jakowlew: „Wir sind für ein europäisches Deutschland und nicht für ein deutsches Europa“

Moskau/Berlin (afp/ap/taz) - Bundeskanzler Kohl mißt seinem Blitzbesuch in Moskau zusammen mit Außenminister Genscher eine „Schlüsselbedeutung“ für die Entwicklung der deutschen Frage zu. In dieser Einschätzung wird ihm die sowjetische Führung wohl kaum widersprechen. Schon bei den Beratungen Außenminister Schewardnadses mit seinem US-Kollegen Baker wurde gestern deutlich, daß Kohl harten Gesprächen entgegengeht.

Mehrere Äußerungen auf dem ZK-Plenum der vergangenen Tage machen deutlich, daß die sowjetische Regierung schon aus innenpolitischen Gründen keinesfalls eine umstandslose Wiedervereinigung Deutschlands hinnehmen kann. So hatte unter anderem Gorbatschows wichtigster Opponent Jegor Ligatschow eindringlich vor der „unverzeihlichen Kurzsichtigkeit“ gewarnt, die Militär- und Wirtschaftsmacht eines vereinigten Deutschland nicht zur Kenntnis zu nehmen. Auch Schewardnadse hatte am Mittwoch festgestellt, in Europa gehe das Gespenst des Revanchismus um. Diese Paraphrase des berühmten Eingangssatzes des Kommunistischen Manifestes ist ein Hinweis auf die Stimmung in der Sowjetunion. Entsprechend kündigte Schewardnadse an, die sowjetische Seite werde bei den Gesprächen mit Kohl und Genscher „die in der gemeinsamen Vergangenheit begründeten sowjetischen Sorgen und Vorbehalte im Bezug auf die deutsche Einheit vorbringen. Über diese Fragen muß gesprochen werden“.

Baker gegenüber brachte Schewardnadse folgerichtig noch einmal den Kohlschen Vorschlag zu einer deutschen Konföderation ins Spiel, bevor er sich recht zurückhaltende Äußerungen zu der von Baker unterstützten Genscher-Formel entlocken ließ: Der Vorschlag enthalte Elemente, die es verdienten, daß man über sie nachdenke. Genscher hatte vorgeschlagen, ein wiedervereinigtes Deutschland könne zwar in der Nato bleiben, der militärische Einflußbereich des Bündnisses solle jedoch nicht auf das Territorium der jetzigen DDR ausgedehnt werden.

Politbüromitglied Alexander Jakowlew brachte die sowjetischen Besorgnisse am Mittwoch vor der Presse in Moskau auf eine griffige Formel: „Wir müssen eine neue Bedrohung aus einer wohlbekannten Richtung vermeiden. Wir sind für ein europäisches Deutschland und nicht für ein deutsches Europa.“ Gegen eine deutsche Wiedervereinigung habe man dann keine Vorbehalte, wenn die Sicherheit der sowjetischen Grenzen garantiert sei.

Kanzler Kohl ließ inzwischen wissen, der Sinn der Blitzreise liege darin, die sowjetischen Befürchtungen angesichts der rasanten Entwicklung in Richtung deutsche Einheit zu zerstreuen. Falls Kanzlerberater Horst Teltschik im Deutschen Fernsehen das sowjetische Mißtrauen zerstreuen wollte, ist das gründlich danebengegangen: Er erklärte, die Hauptbotschaft Kohls werde darin bestehen, daß sich das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen „im Augenblick im wahrsten Sinn des Wortes vollziehe“, weil „die Menschen in der DDR den Prozeß und dessen Geschwindigkeit bestimmen und niemand sonst“. Wenn Schewardnadse jetzt von „Revanchismus“ rede, beweise dies nur, wie wichtig das Gespräch in Moskau sei. „Denn entweder sind sie Ausdruck von innen- und außenpolitischer Propaganda oder Ausdruck einer Fehleinschätzung der Lage in Deutschland.“

Außenminister Genscher, der separat mit Schewardnadse beraten will, drängt darauf, Frieden und Sicherheit in Europa durch weitere substantielle Abrüstung und die Vereinbarung kooperativer Sicherheitsstrukturen zu festigen.

Polens Außenminister Skubiszewski, der sich zur Zeit in der BRD aufhält, plädierte für Pragmatismus in der deutschen Frage. Ihm sei selbst noch nicht ganz klar, wie man das Problem der Nato-Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschlands lösen könne. Eine Ausdehnung des jetzigen Nato -Territoriums schloß Skubiszewski jedoch kategorisch aus, weil dies mit der europäischen Stabilität unvereinbar sei.

Bei ihren Gesprächen in Bonn hatten Kohl und Skubiszewski übereinstimmend festgestellt, daß „Deutschland unter einem europäischen Dach vereint und in ein europäisches Sicherheitssystem eingebunden“ werden müsse. Eine künftige Neutralität Deutschlands und ein deutscher Alleingang seien von der Geschichte überholt und widerlegt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen