■ Kohl kürzt die Ostförderung und trifft die eigene Klientel: Tritt gegen das politische Standbein
So schnell kann das gehen. Eben war das Land noch geeint in Schock und Entsetzen über die Flutopfer, und schon wenden sich die Deutschen wieder vom Osten ab. Gerade überwies die aufgewühlte Nation noch Hilfsgelder für die überfluteten Gebiete in Brandenburg, da streicht Bundesfinanzminister Theo Waigel mal eben 709 Millionen Mark aus dem Bundeshaushalt für die Gemeinschaftsaufgabe Ost.
Die Wirkung ist fatal, denn wirtschaftlich geht dort fast gar nichts voran. Nennenswerte Neuansiedlungen in der Großindustrie entstehen allenfalls mit VW oder Siemens in Sachsen. Die ehemaligen Industriekombinate sichern nur dank Steuermilliarden allenfalls regional und womöglich lediglich zeitlich begrenzt Arbeitsplätze. Um zu einer eigenständigen ostdeutschen Wirtschaftsidentität zurückzufinden, reicht das nicht.
Bislang haben Waigel und Kohl im Chor mit Landespolitikern, Wirtschaftsforschern und Vereinslobbyisten betont, daß die Zukunft Ostdeutschlands vom innovativen Klein- und Mittelstand abhängt. Denn nur mittelständische Unternehmen zahlen den Ost- Kommunen langfristig Steuern, wachsen mit finanzieller Unterstützung gemächlich und wandern nicht in billigere Nachbarländer aus.
Doch der Glaube an die innovative und moralisch stützende Kraft kleiner Unternehmen hat die Kabinettsrunde verlassen. Eigentlich gestehen Waigel und Kohl – ohne den eine derartige Entscheidung nicht zustande gekommen wäre – mit ihrer Subventionsstreichung ein, daß der Aufbau Ost sieben Jahre nach der Wiedervereinigung gescheitert ist. Und diese Botschaft braucht nicht mehr ausgesprochen zu werden, sie wird auch so von der eigenen Klientel im Osten verstanden. Die wirtschaftspolitische Häresie des Kanzlers ist mutig zu Beginn des Bundestagswahlkampfs. Immerhin fünf Bundesländer bringt die Regierung mit dem Abfall vom Glauben an die aufbauende Kraft des Mittelstandes gegen sich auf. Na ja, viele Stimmen hatten die Liberalkonservativen im Osten wohl eh nicht zu erwarten. Da macht es dann auch nichts, daß Kohls jüngstes Versprechen, jährlich hunderttausend Arbeitsplätze in Ostdeutschland zu schaffen, sich als Blase erweist.
Und Rexrodt? Der steht wieder einmal dumm da. Mit eingesogener Oberlippe hat der Wirtschaftsminister versucht, Waigel von dem Kapitalschnitt Ost abzubringen. Aber sein Wort hat mittlerweile im Kabinett kein Gewicht mehr. Bei einer Umbildung wäre er der erste, der gehen müßte. Ulrike Fokken
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