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■ Kohl hat die Wahlen 1990 und 1994 im Osten gewonnen – diesmal verliert er sie dort. Schröder ist deswegen noch lange kein OstdeutscherDer Osten als Chefsache

Der Ostdeutsche an sich ist für den Westen immer noch ein rätselhaftes Wesen. Besonders undurchsichtig zeigt er sich in diesen Wochen wieder einmal in seiner spezifischen Ausformung als Wähler. Um es auf den Punkt zu bringen: Der Ostdeutsche wählt, was er will. So hat das Helmut Kohl mit der deutschen Einheit nicht gemeint.

Die Wahlforscher wissen längst, daß sich die Ostdeutschen in der Mehrheit nicht an eine bestimmte Partei gebunden fühlen. Die Hälfte von ihnen ist bereit, ermittelte die Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen, von einer Wahl zur nächsten einfach die Partei zu wechseln. Im Westen hingegen ist es nicht einmal ein Drittel; dort leben die Parteien bis zu achtzig Prozent von ihrer jeweiligen Stammwählerschaft, die in bestimmten Milieus fest verankert ist. Die Ostdeutschen sind viel leichter von Stimmungen und Personen zu beeinflussen. Das funktioniert allerdings nur, wenn man das rätselhafte Wesen versteht: Die Ostbürger, so fand der Spiegel heraus, wollen nicht als solche besonders angesprochen werden, und wenn, dann sollen sie es nicht merken. Wie soll man da Wahlen gewinnen? Indem es keiner merkt?

Fest steht für die Wahlforscher nur: Gerade im Osten können alle Parteien gefährlich verlieren oder enorm viel gewinnen. Unter diesen Vorzeichen wird die morgige Wahl in Sachsen-Anhalt zur Vorentscheidung für die Machtverhältnisse in Bonn. 1990 und 1994 hat Helmut Kohl die Wahlen vor allem im Osten gewonnen – in diesem Jahr wird er sie dort verlieren. Nicht nur in Magdeburg, sondern auch in Schwerin, Erfurt, Potsdam, Berlin, fast überall drohen der CDU erdrutschartige Verluste. Nach den aktuellen Meinungsumfragen können die Christdemokraten in Ostdeutschland derzeit nur noch mit 24 Prozent rechnen (1990 waren es 42,6 und 1994 noch 38,5 Prozent). In der Bonner Parteizentrale hofft man nur noch, wenigstens die PDS hinter sich zu lassen.

Wird der Osten jetzt rot? Es sieht so aus. Die SPD hat dort gegenwärtig 42 Prozent der Wähler hinter sich. In Sachen-Anhalt träumt sie sogar schon von der absoluten Mehrheit. Hat die SPD die besseren politischen Konzepte für den Umgang mit Ostdeutschland? Kommt es darauf überhaupt an? Oder sprechen die Sozialdemokraten nur die besondere Sprache, die die Menschen zwischen Ostsee und Erzgebirge hören wollen, ohne daß sie es merken?

Ist Gerhard Schröder am Ende gar ein Ostdeutscher? Wer Reinhard Höppner, den Regierungschef von Sachsen-Anhalt, hört, wie er in leicht väterlichem Ton sagt, daß Schröder gerade dabei sei, sich auf Ostdeutschland neu einzustellen, der braucht sich diesbezüglich keine Sorgen zu machen. Und wer im Wahlprogramm der Sozialdemokraten liest, daß die SPD nach einem Wahlsieg im September den Aufbau Ost zur Chefsache im Kanzleramt erklären will, der versteht, daß diese Partei in den vergangenen Jahren einiges, aber nicht besonders viel über den Osten gelernt hat.

Was mit Chefsachen so alles passieren kann, hat Helmut Kohl mit seinen blühenden Landschaften erlebt. Sollte Schröder das wiederholen wollen, kann man ihm dabei nur viel Spaß wünschen. Vielleicht sagt ihm vorher jemand, daß östlich der Elbe nicht mehr die Tundra beginnt, die man von Bonn aus erst noch erschließen und dann aufpäppeln muß. Wir schreiben nicht mehr 1989, sondern 1998. Der Osten ist nicht mehr nur ein Krisengebiet. Er hat dem Westen mittlerweile die wichtige Erfahrung eines Systemzusammenbruchs voraus. Seine in den letzten Jahren gewonnene Bereitschaft, manches anders zu machen als im Westen (Tarifpolitik, Subventionsabbau, von der PDS tolerierte Minderheitsregierung in Sachsen- Anhalt), und seine Fähigkeit zum klugen Pragmatismus machen den Osten zu einem Zentrum von Veränderungen in der gesamten Bundesrepublik. Hier schimmert eine Seite der Zukunft des neuen Deutschland hervor.

Der Höhenflug der SPD im Osten läßt sich nicht etwa mit einer besonders eindrucksvollen Politik erklären. Die Partei profitiert vom Erfolg Gerhard Schröders, mit dem sich die überzeugendere Botschaft verbindet („Wir wollen den Wechsel“), und sie besitzt das bessere Personal. Mit Höppner, Stolpe oder Platzeck hat die Partei Führungspersönlichkeiten in den Ostländern, die mit ihrem Stil und ihrem Ton die Befindlichkeiten der Menschen besser treffen als vergleichbare CDU-Politiker (mit Ausnahme Biedenkopfs). Vor allem aber lebt die SPD von den Enttäuschungen der Ostdeutschen über den Kanzler der Einheit. Dazu kommt eine völlig verfehlte Wahlstrategie der Union. Mit einer Mischung aus Euro und Lagerwahlkampf gewinnt die CDU im Osten nicht mal einen Blumentopf.

Ein Wahlsieg der SPD könnte für die Partei so etwas wie eine späte Versöhnung mit dem Osten werden. Lange Zeit verziehen die Sozialdemokraten den Ostdeutschen nicht, daß sie 1990 die Hoffnungen der SPD enttäuscht haben. Statt Oskar Lafontaine, der ihnen die Kosten der Einheit vorrechnete, wählten sie Helmut Kohl, der ihnen das Blaue vom Himmel versprach. Erst sechs Jahre später entdeckte die SPD – unter dem Druck der PDS – die Sorgen der Ostdeutschen wieder. 1996 gründete die Partei ihr „Forum Ostdeutschland“. Der Osten sollte so eine zweite Chance bekommen.

Zweite Chance schön und gut, aber wofür? Solange die SPD ihren tief sitzenden Paternalismus gegenüber dem Osten nicht ablegt, wird sie mit Schröder im Osten die Wahlen gewinnen – mehr aber auch nicht. Sie wird, ebenso wie CDU, FDP oder die Grünen, nur wenig an den grundlegenden Problemen zwischen Ost- und Westdeutschland ändern. Der Osten ist ja nicht nur Vorreiter, sondern vor allem Nachzügler, er ist in fast jeder Hinsicht in der Minderheit: ein Viertel des Landes, ein Fünftel der Bevölkerung, kaum Industrie, keine nationalen Medien, keine Parteizentrale (bis auf die der PDS in Berlin), keine Vorstandsetagen großer Unternehmen. Da bleibt der Osten lieber unter sich. Er versichert sich seiner Gemeinsamkeiten, und die liegen vor allem in der Vergangenheit. Zunehmend entdecken so die Ostdeutschen im Westen die Wiederkehr der DDR. Acht Jahre Einheit, und schon wieder dieselbe Stagnation wie damals, sagen sie. Der Feind ist wieder „das System“, das sich in ihren Augen als „Demokratie“ oder als „Rechtsstaat“ tarnt. Lauschangriff? Kennen wir, heißt es, alles Stasi! So fällt der Osten auf sich selbst zurück. Und der Westen hat keine bessere Idee, als ihn zur Chefsache zu machen. Vielleicht, weil er ja auch ganz gerne unter sich bleibt. Jens König

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