Koalitionsvertrag ist fertig: Merkels neue Macht
Die Kanzlerin hat ihre Leute platziert, Gegner neutralisiert, die FDP abgespeist. Die glanzlose Optik ist zweitrangig.
BERLIN taz | Nein, jetzt bloß keine Treuebeschwörungen oder gar Liebesbekundungen. Während FDP-Chef Guido Westerwelle und der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer neben ihr so taten, als würden sie sich jetzt mögen, blieb Angela Merkel ganz kühl. "Ich bin wahrscheinlich älter und reifer geworden", sagte die Kanzlerin bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags auf die Frage, was bei ihrer Wiederwahl anders sei als beim Amtsantritt 2005.
Der Wechsel des Koalitionspartners schien ihr keiner weiteren Erwähung wert zu sein, dabei ist er durchaus von Belang: Die SPD hatte zumindest theoretisch eine andere Machtoption im Bundestag, die FDP hat sie nicht. Geändert hat sich deshalb vor allem eines: Angela Merkel ist jetzt mächtiger als je zuvor. In Partei und Regierung hat sie ihre Leute auf Schlüsselpositionen platziert, Gegner neutralisiert, die FDP mit undankbaren Kabinettsposten und vagen Absichtserklärungen abgespeist.
Die Grenzen, die ihr das Wahlergebnis vor vier Jahren personalpolitisch auferlegte, sind gefallen. Die Mitglieder der "Boygroup", die sie seit ihrer Zeit als Oppositionsführerin begleiten, rücken jetzt allesamt in Schlüsselpositionen ein.
Ronald Pofalla wird Kanzleramtschef, Norbert Röttgen Umweltminister, Hermann Gröhe CDU-Generalsekretär, Peter Hintze Staatsminister im Kanzleramt und Peter Altmaier Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion. Beim letzten Mal hatten sich Altmaier und Hintze noch mit nachrangigen Staatssekretärsposten für Europa- und Raumfahrtpolitik begnügen müssen, Röttgen fühlte sich als parlamentarischer Geschäftsführer ebenfalls unter Wert eingesetzt.
Die Fünf waren schon Anfang der 1990-er Jahre die treibenden Kräfte der schwarz-grünen Pizza-Connection, auch darüber könnte ein FDP-Politiker ins Grübeln kommen. Bei einem Bonner Italiener knüpften die damaligen CDU-Youngsters Gesprächsfäden zum heutigen Grünen-Chef Cem Özdemir, dem parlamentarischen Geschäftsführer Volker Beck und einigen Parteifreunden, die mittlerweile aus der Politik ausgeschieden sind.
Gröhe ließ es sich nicht nehmen, bei seinem ersten Auftritt als Generalsekretär am Samstagabend die Wandlungen der Grünen positiv zu würdigen. Er lobte die inhaltliche Weiterentwicklung der Partei, die demnächst in zwei Bundesländern mit der CDU regiert und zeitgleich auf ihrem Rostocker Parteitag über die Jamaika-Option debattierte.
Westerwelle musste sich derweil dafür rechtfertigen, warum er für die FDP keine wichtigeren Ressorts herausgeschlagen habe. Statt auf eine entsprechende Journalistenfrage die Bedeutung der fünf FDP-Ministerien herauszustreichen, hielt der Parteivorsitzende am Samstag einen mäßig eleganten Vortrag über die Vertraulichkeit von Chefgesprächen. Zur Frage der Ressortverteilung habe es "engagierte Verhandlungen" gegeben.
Das ist die höfliche Umschreibung dafür, dass die Kanzlerin die liberalen Ambitionen auf das wichtige Finanzressort vereitelt hat. Nun bleiben der FDP zweitrangige Posten und zweitrangiges Personal. Was Merkel von der Durchsetzungskraft des neuen FDP-Wirtschaftsministers Rainer Brüderle hält, machte sie durch einen Vergleich mit dem FDP-Vorgänger Günter Rexrodt deutlich. Er hatte sich seinerzeit mit der Bemerkung aus dem machtpolitischen Spiel katapultiert, Wirtschaft finde in der Wirtschaft statt.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger wird als Justizministerin zwar das Bürgerrechtsprofil der FDP schärfen, nennenswerten Einfluss auf die zentralen finanz- und sozialpolitischen Fragen der nächsten Wahlperiode hat das Haus aber nicht. Bleibt das Gesundheitsministerium, in das die FDP mit dem 36-jährigen Niedersachen Philipp Rösler den Unerfahrensten der neuen Ressortchefs entsendet. Auch hier gab Merkel einen Hinweis auf ihre machtpolitische Einschätzung. Die Frage der Gesundheitsreform sei "in allen Industrienationen das Schwierigste", sagte sie.
Selbst in der Außenpolitik gedenkt Merkel den neuen Vizekanzler einzurahmen. "Wir wollen, dass Deutschland ein atomwaffenfreies Land wird", erklärte Westerwelle für ihren Geschmack wohl allzu forsch. "Im Gespräch mit unseren Partnern", fügte Merkel gleich zweimal hinzu. Es war ein Hinweis, dass der Neuling die Gepflogenheiten auf internationalem Parkett noch nicht so ganz beherrscht.
Wenig wert sind auch die verbalen Zugeständnisse, die sie der FDP im Koalitionsvertrag gemacht hat. Bis zwei Uhr früh stritt sie mit Westerwelle in der Nacht zu Samstag über die Steuerreform. Die FDP bekam am Ende den Satz zugestanden, die Koalition wolle "den Einkommensteuertarif zu einem Stufentarif umbauen". Er solle "möglichst" zum 1.1.2011 in Kraft treten. Zwei Absätze zuvor heißt es, die geplante Entlastung um 24 Milliarden Euro solle "im Laufe der Legislaturperiode" erfolgen.
Was solche Sätze angesichts einer Rekordverschuldung im nächsten Jahr noch wert sind, verdeutlichte der künftige Finanzminister Wolfgang Schäuble in ersten Interviews. "Wir fahren weiter auf Sicht", erklärte er in der Welt am Sonntag. Man wolle Steuersenkungen "versuchen", über die Vorteile des Stufentarifs sei er "nicht so ganz sicher". Ein fester Termin wird in der Koalitionsvereinbarung nur für die Steuersenkungen genannt, die noch die große Koalition beschlossen hat.
Beim zweiten Kernthema der FDP, der Gesundheitsreform, ist es ähnlich. Hier wird sogar das Wort "langfristig" bemüht, um den Zeithorizont für die Einführung einer Kopfpauschale zu beschreiben. "In der Gesundheit ändert sich zunächst einmal gar nichts", versicherte CSU-Chef Horst Seehofer eilig. Merkel hörte mit jenem leeren Gesichtsausdruck zu, den sie so virtuos beherrscht wie kaum ein anderer Politiker. Schön, wenn CSU und FDP sich streiten. Das hält alle Optionen offen und eröffnet Spielraum für situative Politik.
Um die CSU muss sich Merkel noch weniger Sorgen machen als um die FDP. Den Jungstar Karl-Theodor zu Guttenberg hat sie angesichts des immer prekäreren Afghanistan-Einsatzes mit dem Verteidigungsressort neutralisiert, ein Interesse, das sie mit Seehofer teilte. Die Machtfülle von Agrarministerin Ilse Aigner und Verkehrsminister Peter Ramsauer raubt ihr ohnehin nicht den Schlaf.
Mit Wolfgang Schäuble und Thomas de Maizière im Finanz- und Innenministerium hat Merkel die wichtigsten Querschnittsressort mit CDU-Politikern besetzt, die seit Jahrzehnten in Regierungszentralen auf Bundes- und Landesebene arbeiten. FDP-Minister mit elf Jahren Oppositionserfahrung werden es gegen sie schwer haben. Nur ein fachpolitisches, aber kein machtpolitisches Risiko ist der Hesse Franz Josef Jung, für den die Logik der Kabinettsbildung am Ende nur das Arbeitsressort übrig ließ.
Dass die Merkel-Vertraute Annette Schavan das Bildungsressort behält, obwohl sie dort nicht brillierte, und Familienministerin Ursula von der Leyen ihre Ambitionen auf einen Ressortwechsel aufgeben musste – das unterstreicht zwar das glanzlose Bild eines Kabinetts mit wenigen Frauen, nur einer Ostdeutschen und einem unechten Migranten. Aber um des Glanzes willen hat Merkel machtpolitische Fragen noch nie zurückgestellt.
Auf Bilder dagegen hat sie geachtet, auch während der Koalitionsspräche. Zu den Runden in der nordrhein-westfälischen Landesvertretung erschien sie früh, oft lange vor dem Termin. Bloß keine Fotos, die eine übernächtigte Kanzlerin im Ringen um Steuersenkungen zeigen. Erst recht keine Fotos von einem schwarz-gelben Siegestaumel. Gerhard Schröder und Joschka Fischer haben später die Bilder bereut, die sie mit Sektschalen im Freudenrausch zeigten.
Stattdessen trat Merkel während der Koalitionsgespräche zweimal auf Veranstaltungen der Gewerkschaften auf. Das 60-jährige Jubiläum des DGB im prunkvollen Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt war der ersten Verhandlungsrunde unmittelbar vorgeschaltet, die Koalitionsspitzen holten sich dort ihren Segen wie in einem Gottesdienst.
Zwischendurch eröffnete Merkel das wiedererstandene Neue Museum gleich gegenüber ihrer Wohnung. Dort gab es schöne Bilder mit der Pharaonin Nofretete. Das politische Wirken der Ägypterin ist bis heute von Geheimnissen umwittert. Als sicher gilt: Neben Kleopatra verfügte sie von allen Politikerinnen des Altertums über das solideste Machtbewusstsein.
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