Kleinstadt im Dioxin-Nebel

Nach dem Großbrand der Kunststoffrecyclingfirma schreit die Verwaltung von Lengerich jetzt nach Hilfe/ Betrieb galt als ungefährlich/ Große Mengen Dioxin freigesetzt  ■ Von Hermann-Josef Tenhagen

Berlin (taz) — Die Folgen des verheerenden Großbrands von Lengerich beginnt der örtlichen Verwaltung über den Kopf zu wachsen. Gestern verlangte der stellvertretende Stadtdirektor der westfälischen Kleinstadt, Michael Hauß, ultimativ mehr Unterstützung von übergeordneten Behörden. Es erscheine zwingend, „weitere Verwaltungskräfte und einen ständig präsenten Krisenstab mit Fachleuten aus allen berührten Bereichen hier vor Ort zur Verfügung gestellt zu bekommen“.

Auch die Bauaufsicht des Kreises Steinfurt räumte eine gewisse Hilflosigkeit ein. Der Brandschutzbeauftragte des Kreises sei noch im Juni in der Kunststoffrecyclingfirma gewesen und habe Veränderung bei der Lagerung der Kunststoffe angeordnet. Unter anderem wurde ein Sicherheitsabstand von 10 Metern zwischen den Plastikhaufen der Firma Microplast und dem Nachbarbetrieb angeordnet. Dieser sei von der Firma auch prompt geschaffen worden, was ein Übergreifen der Flammen verhindert habe, sagte Amtsleiter Martin Höschen. Höschen räumte ein, daß Microplast die Genehmigung für Recycling auf dem Gelände fehlte. Der Betrieb habe damit „formell illegal“ gearbeitet. Allerdings sei die Genehmigung der Nutzungsänderung nur noch eine formale Frage gewesen.

Auch der stellvertretende Leiter des Gewerbeaufsichtsamtes Münster, Arno Garbe, sagte der taz: „Das ist ein Betrieb, der nach den bisherigen Einschätzungen keine besondere Gefahr darstellte.“ Seine Leute seien im vergangenen Jahr und in diesem Jahr auf dem Gelände gewesen. Der Brandschutz war zumindest für die Beschäftigten gewährleistet.

Die Gefährdungsanalyse muß jetzt wohl revidiert werden, schwant Amtsleiter Höschen. „Wenn schon ein Kleinbetrieb eine solch verheerende Katastrophe auslösen kann, was ist dann mit den Kunststoffgiganten?“.

PVC bringt Dioxine

Holger Brackemann vom Umweltbundesamt warnt vor allem vor der Gefährdung durch die Innenraumbelastung mit Dioxinen. Das Bundesgesundheitsamt sehe dafür eine maximale Luftbelastung von fünf Picogramm Toxiditätsequivalent (TE) pro Kubikmeter Luft vor. Zum Vergleich: Die in der Rußfahne gemessenen Werte von fünf Nanogramm sind 1.000mal so hoch.

Kritischen Wissenschaftlern wie dem bayerischen Dioxinexperten Tino Merz sind selbst diese Werte noch viel zu hoch. Bei einer Kindergartenstudie in Hamburg seien klinisch sichtbare Verschlechterungen der Gesundheit schon bei 0,8 Picogramm Dioxin (TE) pro Kubikmeter Luft festgestellt worden. Atemwegserkrankungen und Veränderungen im Immunsystem seien bereits bei dieser kleinen Dosis aufgetreten, langfristig drohe Krebs.

„Fünf Nanogramm sind eine toxische Dosis, da müßten die Leute unmittelbar etwas spüren“, so Merz. „Die Menschen in Lengerich können von Glück sagen, daß keine Inversionswetterlage herrscht und die giftige Wolke tagelang über der Stadt hängt.“ Typische Reaktionen bei so hohen Konzentrationen sind Konzentrationsschwäche, Kopfschmerzen, aber auch depressive Schübe.

Merz forderte, Tapeten, Teppiche, Kleider und Hausstaub genau zu untersuchen. Das Waschen wird vermutlich aber nicht einmal ausreichen, wenn man dem Bundesgesundheitsamt glauben darf. Dessen Experte Wolfgang Rotard hatte kürzlich empfohlen, bei ganz normalen Hausbränden Wände und verrußte Flächen auf die Dioxinbelastung zu überprüfen. Betonwände müßten mit Sandstrahlgeräten abgestrahlt werden, Kunststoffdeckenverkleidungen und Holzvertäfelungen herausgerissen und der Putz möglicherweise abgeklopft werden. Von der Ernte brauche man bei den betroffenen Bauern gar nicht mehr zu reden. Wahrscheinlich müßten gute Teile davon als Sondermüll entsorgt werden.