Kleinparteien bei der Bundestagwahl: Die wahren Idealisten
Kleine Parteien wie die Piraten stehen nur selten mit einem Stand in der Fußgängerzone. Sie erreichen potenzielle Wähler anderswo - und manchmal auch mit anderen Mitteln.
Simon Kowalewski sieht aus wie ein Pirat aus dem Bilderbuch: lange dunkle Haare, schwarzer Rock, Piratentuch um den Kopf gebunden und Verletzungen im Gesicht. Doch die Augenklappe fehlt und statt auf einem Schiff steht Kowalewski auf dem Winterfeldmarkt in Schöneberg. Es ist ein sonniger Samstagmorgen, über seiner Schulter hängt eine orangefarbene Flagge mit dem Logo seiner Partei: Kowalewski ist ein Pirat im Wahlkampf.
Bei der Europawahl im Juni hatte die Partei berlinweit 1,4 Prozent der Stimmen geholt mit einem Programm, das sich vor allem auf Bürgerrechte im Internet konzentriert. Dieses Ergebnis will sie bei der Bundestagswahl noch übertreffen. Deshalb steht Kowalewski gemeinsam mit Martin Haase und drei weiteren Kollegen von der regionalen Piraten-Crew zwischen den Ständen, an denen die Händler Schmuck, Tee und Gemüse verkaufen. Es ist kurz nach zehn Uhr, schon jetzt sind der Markt und vor allem die umliegenden Cafés gut gefüllt. Für die fünf Wahlkämpfer wird es ernst.
Mit Buttons, Flyern und Plakaten, die zum Mitmachen aufrufen, machen sie sich auf den Weg. Es ist eng zwischen den Ständen, einige Verkäufer schauen ungehalten, nur ein Gemüsehändler lässt sich Werbematerial in die Hand drücken. Plötzlich kommt Unruhe auf. Die Marktmeisterin, in gelber Warnweste, postiert sich vor der Gruppe. "Sie können sich bitte an den Anfang oder ans Ende stellen, aber nicht auf den Wochenmarkt", sagt sie, sichtlich genervt über die ungebetenen Besucher.
"Wenn man das erste Mal dabei ist, hat man schon eine ganze Reihe von Nachteilen", erklärt Haase - nicht nur mit Blick auf die Marktmeisterin. Da wäre zum Beispiel die Sache mit dem Plakatieren. Offiziell durften die Parteien an einem Montag um null Uhr beginnen - doch die Piraten entdeckten, dass andere Parteien schon am Freitagabend die ersten Wahlplakate aufgehängt hatten. "Man muss wissen, dass das Ordnungsamt Verstöße ahndet - aber das hat dann schon Feierabend", erklärt er.
Bis die Crews Flyer verteilen und Plakate kleben durften, musste die Piratenpartei einige, nicht gerade kleine organisatorische Hindernisse aus dem Weg räumen. 2.000 gültige Unterstützerunterschriften mussten gesammelt, Einverständniserklärungen und Wählbarkeitsbescheinigungen vorgelegt und vor dem Bundeswahlausschuss auch noch plausibel gemacht werden, dass es sich hier tatsächlich um eine Partei handelt mit Zielen, Programm und Personal. Das schaffte nicht jede Kleinpartei: Die Partei Bibeltreuer Christen und die Freien Wähler etwa scheiterten in Berlin an den Unterschriften, die Grauen und die Satirepartei Die Partei lehnte der Bundeswahlausschuss ab.
Bei der Piratenpartei war man sich sicher, dass sie es schafft. "Wir haben uns schließlich wochenlang darum gekümmert", sagt Sprecher Fabio Reinhardt. Jetzt muss die Parteibasis ran - und kann sich zumindest bei den Anwohnern um den Winterfeldplatz über positive Reaktionen freuen. Es ist erst halb elf, doch die Mitstreiter müssen schon deutlich weniger Wahlkampfmaterial tragen. Da ist zum Beispiel eine Anwohnerin, die gerade aus einer Boutique kommt und sich gleich einen ganzen Stapel Flyer geben lässt, um selbst Werbung zu machen - auch wenn sie sich aus familiären Gründen dazu gezwungen sieht, ihre Erststimme der CDU zu geben. "Aber meine Zweitstimme habt ihr."
Auf der anderen Seite der Straßenkreuzung bauen die Grünen einen Stand auf. Mit drei Handgriffen steht ein kleiner Plastikpodest, mit ein paar weiteren ein Sonnenschirm. "Solche Schirme wurden bei uns mehrheitlich abgelehnt", sagt Pirat Simon Kowalewski. Man wollte dynamischer wirken, auf die Menschen zugehen - und habe sich daher für Kiezbegehungen entschieden. Eine Idee, die sich komplizierter gestaltete als zunächst angenommen: Nachdem eine Zivilstreife eine Piratengruppe in Lichtenberg als unangemeldete politische Demonstration stoppte, wurde jeder Spaziergang als Versammlung angemeldet.
So weit ist die Konkurrenz noch nicht gegangen. Sie steht, ganz unangemeldet, einige Kilometer südlich vom Winterfeldplatz, vor einem Biosupermarkt in Friedenau. Klaus Buchner und Mario Christen, der Bundesvorsitzende und Listendritte sowie der Listenerste der Ökologisch-Demokratischen Partei (ödp), machen höchstpersönlich Wahlkampf. Vor einem Biosupermarkt, das haben sich die beiden überlegt, sollte eine gentechnikkritische und ökologisch orientierte Klientel zu finden sein. Und die wollen sie überzeugen, ödp zu wählen.
"Wir hatten diesmal einen kurzen Vorlauf und keine Zeit, einen Stand anzumelden", entschuldigt sich Buchner. Ein Wahlplakat, provisorisch angebracht an einem bemalten Stromkasten, muss reichen. "Klar wäre es mit Stand und Sonnenschirm einfacher, da kommen die Leute auch mal auf einen zu und fragen, für was man denn so steht", sagt Christen. So muss er auf die Leute zugehen, Flyer in die Hand drücken, meistens noch erklären, dass es hier um eine Partei geht und ö für ökologisch und nicht für Österreich steht.
Nicht wenige der Angesprochenen haben schon gewählt, per Brief. Die Kinder sind da pflegeleichter: Die orangefarbenen Luftballons mit Parteiaufdruck werden Klaus Buchner fast aus den Händen gerissen. "Man braucht schon eine Elefantenhaut", sagt Christen, nachdem ein Passant mit rüden Worte sein Nicht-Interesse an jeglichen Materialien bekundet hat.
Buchner plagen ganz andere Probleme: Er muss sich die Gesichter der Personen merken, die er schon einmal angesprochen hat, um ihnen nicht ein zweites Mal Werbematerial in die Hand zu drücken. Ein Prozent, so das ehrgeizige Ziel, will die Partei am 27. September bekommen. Bei der Bundestagswahl 2002, zu der die ödp als letztes antrat, waren es gerade mal 0,1 Prozent. Dabei wollen sie die Stimmen vor allem aus dem "bürgerlichen Lager", wie Christen es bezeichnet, holen - von CDU und FDP.
Am Wahlsonntag wird Spitzenkandidat Christen nicht nur unter "Sonstigen" das Ergebnis für die ödp suchen. Sondern vor allem darauf fiebern, dass es nicht für eine schwarz-gelbe Koalition reicht. Und wenn das daran liegt, dass ein paar Wähler sich an den Flyer erinnert haben, den sie vor dem Supermarkt in die Hand gedrückt bekamen, hätte sich für ihn der Aufwand gelohnt.
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