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Kleine Stinkbombe

Käfer beobachten, Hüpfbälle schlagen: Das Elektronik-Duo Super_Collider über sein neues Album „Raw Digits“

Auf Fotos sieht Jamie Lidell oft aus, als würde in seinen blauen Augen der Wahnsinn flackern. Sitzt er einem gegenüber, ist er bloß ein verschlafener, verstrubbelter Musiker, der freundlich Auskunft gibt. Genau entgegengesetzt verhält es sich mit Cristian Vogel: Der gibt immer genau das hibbelige, abgemagerte Männchen, das er auch auf fotografischen Abbildungen ist.

Beide sind sie Super_Collider. Deren neues, zweites Album „Raw Digits“ bewegt sich zwischen den Polen, die Lidell und Vogel im Gespräch verkörpern: zwischen nervös flatternden, elektronischen Beats und ruhigen breiten Klangflächen, zwischen einem zuckenden Funk-Rhythmus und langgezogenen balladenhaften Melodielinien. Verwegen sind auch die Quellen der gesampelten Klänge: „Eine ganze Menge haben wir einem Hüpfball aus Plastik zu verdanken“, erzählt Vogel. „Das Ding haben wir immer wieder gern mit metallenen Sachen geschlagen.“ Der Klang begibt sich auf Forschungsreise. So wie die Worte, die Lidell singt, brummelt, murmelt, und die oft gar keinen Sinn ergeben. Sie scheinen direkt aus dem Unterbewusstsein zu fließen und tief versteckte Erinnerungen zu wecken.

Am Anfang von Super_Collider, damals noch in Brighton, wo sich die beiden Mitte der 90er-Jahre kennen lernten, stand das Bedürfnis, so Vogel, „aus dieser kleinen Schachtel Techno auszubrechen“. Man hatte genug von „immer nur Clubs, Clubs, Clubs“. Also benannte man sich nach einem Teilchenbeschleuniger und nahm „Head On“ auf. Das Debütalbum führte in atemlosen Hochleistungstracks Techno und Avantgarde zusammen, mathematische Genauigkeit und gellenden Irrsinn, verknüpfte Punk mit dem Dancefloor, lud Stockhausen und Sven Väth zur Party ein. Und verkaufte sich weltweit ungefähr 10.000-mal.

Finanziell war „Head On“ damit ein grandioser Misserfolg, schließlich setzt der Avantgarde-Technoproduzent Vogel mit seinen Soloalben meist mehr um. Dennoch war das Werk eine der wichtigsten Platten der späten Neunzigerjahre. Auch, weil sie einen Wendepunkt markierte: Während die Massen immer noch zur Love Parade strömten, die DJs den immer gleichen Set auflegten und piepsiger Kindertechno die Charts stürmte, verabschiedete sich die Pioniergeneration vom Tanzboden und suchte Auswege aus der künstlerischen Krise.

Nun, drei Jahre später, sind die Grenzen, die „Head On“ mutig überschritt, zum großen Teil besiedeltes Gebiet. Der gebürtige Chilene Vogel lebt mittlerweile in Barcelona, Lidell in Berlin, und aus der „Bombe im System“, die man noch vor wenigen Jahren laut Vogel sein wollte, ist „eine kleine Stinkbombe“ geworden. Die hört sich auf „Raw Digits“ allerdings weniger unbehauen an als auf „Head On“, und sehr selten sogar eingängig – wohl wissend, dass man nun, da man sich aus dem „Technoghetto“ (Vogel) herausgewagt hat, mit Global Playern um die Gunst des Publikums konkurriert.

Aufgenommen wurde „Raw Digits“ zum Teil in Ostberlins altem Rundfunkhaus, in der Nalepastraße in Köpenick. Ein, so Lidell, mittlerweile „ziemlich gruseliges Gebäude, ein bizarrer Ort“, aus dem früher die „Stimme der DDR“ sendete. „Heute kann man im Sommer riesige Käfer beobachten, die sich gegenseitig auffressen“, erzählt Lidell. Früher arbeiteten sechstausend Menschen im Gebäude, heute haben nur noch einige Musiker ihre Studios dort. Vogel nennt es „ein Käfermuseum mit repräsentativen Staubausstellungen“. Vielleicht konnte diese Musik, die ganz bewusst die Zukunft des eigenen Genres definieren will, nur aus einem solchen Raum jenseits der Zeit kommen.

THOMAS WINKLER

Super_Collider: „Raw Digits“ (EFA)

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